Reise in die Vergangenheit CD-Einspielung der Sinfonien von Johannes Brahms

BONN · Im Jahre 1896 dirigierte Franz Weingartner in Wien ein Gastspiel der Berliner Philharmoniker. Auf dem Programm stand unter anderem die zweite Sinfonie von Johannes Brahms. Der damals 33-jährige Orchesterleiter muss seinen Job gut gemacht haben, jedenfalls kam der alte Brahms auf ihn zu und dankte dem jungen Kollegen aus tiefstem Herzen für die Interpretation.

 Riccardo Chailly auf dem Cover der Brahms-CD-Box.

Riccardo Chailly auf dem Cover der Brahms-CD-Box.

Foto: Decca

Die kleine Anekdote aus dem Wiener Musikleben hat für den Chefdirigenten des Leipziger Gewandhausorchesters Riccardo Chailly eine große Bedeutung, gerade heute: Für ihn ist Felix Weingartner nicht weniger als Kronzeuge einer Brahms-Interpretation, die Chailly selbst seit vielen Jahren verschüttet glaubt, wie er im Booklet zu seiner Neueinspielung der vier Sinfonien und weiterer Orchesterwerke des Komponisten mit seinem Orchester darlegt. Die Schallplattenaufnahmen der Sinfonien, die Weingartner in den 30er Jahren einspielte, sind für Chailly daher so etwas wie eine Blaupause für seine eigene Interpretation.

Dabei besteht das Geheimnis von Weingartners Kunst eigentlich nur darin, dem Notentext möglichst genau zu folgen. Und das ist auch für Chailly, der die Sinfonien auch schon mit dem Concertgebouw Orkest Amsterdam eingespielt hat, das Maß aller Dinge. Also kein Ritardando, wo es nicht ausdrücklich vom Komponisten gewünscht ist, ebenso steht die Beschleunigung des Tempos auf der Tabu-Liste, nicht weniger penibel geht Chailly mit den dynamischen Angaben um.

Im Ergebnis hört man nun einen ungemein frischen Brahms, wobei nirgends die Gefahr besteht, dass Ausdruck und Gefühl auf der Strecke bleiben. Das von den tiefen Streichern gespielte Thema im ersten Satz der zweiten Sinfonie in D-Dur etwa trifft unmittelbar ins Herz. Selbst der für seine Brahms-Interpretationen zu Recht hochgelobte Carlos Kleiber erlaubt sich gern ein paar interpretatorische Freiheiten, um in den musikalischen Schlüsselstellen der Sinfonien ein bisschen die Dramatik zu unterstützen oder mehr Emotion herauszukitzeln.

Der Vergleich der jeweiligen Aufnahme des ersten Satzes der vierten Sinfonie zeigt deutlich, dass Chailly sich da mehr zurücknimmt. Das Pathos, das man aus vielen Brahms-Interpretationen kennt, wirkt unter Chaillys Leitung sehr viel verträglicher dosiert. Chailly personifiziert in Bezug auf Brahms eine Avantgarde, die sich zurückzublicken traut und sich auf die Quellen besinnt. In dieser Hinsicht ist die Brahms-Einspielung vergleichbar mit dem gefeierten Beethoven-CD-Zyklus Chaillys und seiner Leipziger Musiker, der vor zwei Jahren erschienen war: Auch da führten Musikalität in Verbindung mit Texttreue zu einem überragenden Ergebnis.

Eine hübsche Trouvaille, die sich in der CD-Box findet, ist die rekonstruierte Urfassung des Adagios aus der ersten Sinfonie, die sich aus Brahms' Sicht noch nicht perfekt in die Gesamtarchitektur der Sinfonie einfügte. Schön klingt's aber trotzdem.

Info: Johannes Brahms: Sinfonien, Gewandhausorchester, Riccardo Chailly (Dirigent), Decca (3 CD) .

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