Weltkrieg und Kunstrevolution 1916 - ein Jahr bizarrer Kontraste

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut", so beginnt das Kultgedicht "Weltende" von Jakob van Hoddis. Es geht weiter mit: "In allen Lüften hallt es wie Geschrei,/ Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei/ Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut./Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen/ An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken./ Die meisten Menschen haben einen Schnupfen./Die Eisenbahnen fallen von den Brücken."

 Dada bis zum Irrsinn: Hugo Ball tritt 1916 im kubistischen Kostüm auf; Hans Arp, "Configuration, Portrait de Tristan Tzara", 1916.

Dada bis zum Irrsinn: Hugo Ball tritt 1916 im kubistischen Kostüm auf; Hans Arp, "Configuration, Portrait de Tristan Tzara", 1916.

Foto: ARP MUSEUM

Zwar bezieht sich das Gedicht von 1911 auf die apokalyptischen Ängste angesichts der Wiederkehr des Halleyschen Kometen im Jahr 1910. Doch heute vor hundert Jahren werteten viele "Weltenende" auch als Prophezeiung einer Zeitenwende, der Weltkriegskatastrophe. 1916 ist ein Jahr bizarrer Kontraste.

Am 21. Februar beginnt unweit des Städtchens Verdun im Nordosten Frankreichs die schlimmste Menschen- und Materialschlacht des Ersten Weltkriegs. Der Versuch der deutschen Truppen, sich vom festgefahrenen Stellungskrieg durch eine Offensive zu befreien und Frankreich in die Knie zu zwingen, mündet erneut in einen mörderischen Stellungskrieg. Bis zum 19. Dezember kämpften hier rund 2,5 Millionen in ihre Schützengräben eingegrabene Soldaten - ohne einen nennenswerten Geländegewinn zu erzielen -, etwa 200 000 Soldaten verlieren ihr Leben.

Rund 400 Kilometer im Südosten, in Zürich, bricht sich ein entfesseltes, verrücktes Lebensgefühl Bahn. Mitte in einem brennenden Europa eröffnen in die neutrale Schweiz geflohene Künstler am 5. Februar im Restaurant "Meierei" das "Cabaret Voltaire", einem Labor für höheren Unfug, eine Künstlerkneipe, die den Esprit entfesselt, den man später Dada nennt.

Hugo Ball, Emmy Hennings, Hans Arp, Tristan Tzara und andere sind Mitstreiter der ersten Stunde: Man liest Voltaire, van Hoddis, Lasker-Schüler, Wedekind und eigene Stücke, spielt Rachmaninow und Saint-Saëns, stellt Kunst von Picasso, Arp, Macke und anderen aus. Es gibt freien Tanz der Laban-Schule unter der Assistenz von Mary Wigman, russische, Schweizer und französische Soiréen.

Hugo Ball nennt am 18. April erstmals den Begriff Dada, der sich bald etablieren soll. Er notiert in sein Tagebuch: "Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto- oder Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen."

Jeden Abend außer freitags traten die Dadaisten im "Cabaret Voltaire" auf, verlasen Manifeste und Lautgedichte, Texte von Anarchisten, Sozialisten, Nudisten und Vegetaristen, den sogenannten Lebensreformern, versetzten ihr Publikum in Ekstase. "In einem kunterbunten, überfüllten Lokal sind einige wunderlichen Phantasten auf der Bühne zu sehen", erinnert sich Arp, "wir vollführen einen Höllenlärm. Das Publikum um uns lacht, schreit und schlägt die Hände über den Kopf zusammen."

Anfang 1917 wird die Zürcher Galerie Corray in eine Dada-Galerie verwandelt - in der die Hauptvertreter der Moderne ausstellen. Der Vermieter, der Schokoladenfabrikant David Robert Sprüngli, hat ein scharfes Auge auf die Umtriebe in der Galerie, die nach wenigen Monaten wieder schließen muss. Dada ist laut, aggressiv, wild. "Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt. Wie wird man berühmt? Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus und feinem Anstand, bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit." So beschreibt das Dada-Manifest das neue Lebensgefühl.

Man war sich durchaus bewusst, was in Europa vor sich ging. Dada galt als demonstrative Desertion vom Krieg, auf die geradezu zwingend die "Desertion von der überlieferten Kultur schlechthin" folgte, wie Peter Sloterdijk anmerkt. Dada sei der Abscheu vor dem "dichten Zusammenhang zwischen kriegerischem Realismus und bürgerlich-idealistischer Kultur". Arp etwa wollte, so sein Künstlekollege Huelsenbeck, "die Kunst ändern, mehr als alles andere, und nur durch die Kunst, so glaubte er, könne sich auch das menschliche Leben ändern".

Von Zürich ging die erste internationale Kunstbewegung aus. Auf Dada Zürich folgten Zentren in Berlin, Hannover, Köln, New York und Paris. Bis in unsere Gegenwart sind Dada-Spuren vorhanden. Improvisation, Zufallsprinzip, das Crossover vom Lautgedicht zum Theater über den Tanz zur bildenden Kunst: Performance, Happening, Fluxus, Konzeptkunst, alle profitierten von Dada.

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