Bad Godesberg "1913" nach dem Buch von Florian Illies in den Kammerspielen

Bonn · Ein sympathischer Empfang: In den Kammerspielen in Bad Godesberg hat das Theater den General-Anzeiger sozusagen als roten Teppich ausgelegt. Auf in Plastik verpackten Zeitungsseiten kann der Besucher den Weg vom Foyer zur Garderobe zurücklegen.

Das passt zur Natur dieses originellen Theaterabends, der die gewohnten Grenzen zwischen uns, dem Publikum, und ihnen, den Theaterleuten, aufhebt.

"1913. Der Sommer des Jahrhunderts" nach dem Buch von Florian Illies ist ein szenischer Rundgang, ein Erlebnisparcours, in dessen Zentrum neben dem gesamten Ensemble der Ort des Geschehens steht , die Kammerspiele. Sie lernt man von oben bis unten kennen, von der Unterbühne bis zur Statistengarderobe.

Alice Buddeberg, Lothar Kittstein und die Schauspieler haben "1913" gemeinsam erarbeitet. Es herrschen Darstellungsfreiheit und Ausdrucksvielfalt, von der traditionellen Theatersprachkunst bis zur Videobotschaft mit ohrenbetäubendem Soundtrack. Viele Treppen muss man in diesen 90 ereignisreichen Minuten bewältigen, das Theater macht den Zuschauern Beine.

Der körperliche Einsatz lohnt. Am Ende, als wir alle auf der Bühne standen, während die Schauspieler auf den Zuschauersesseln im Parkett saßen, blickte man in durchweg glückliche Gesichter. Ab 22 Uhr spielte dann die Musik auf der Bühne, beim Konzert von Sophia Kennedy und Carsten "Erobique" Meyer. Und im Foyer konnte man die Installation "2013" mit Exponaten aus Gegenwart und Zukunft genießen.

Was nicht alles passiert in den zwölf Kapiteln (Januar bis Dezember) in Illies' Buch. Im Januar 1913 begegnen sich Hitler und Stalin beim Spazierengehen im Schlosspark von Schönbrunn, im Dezember wäre Rainer Maria Rilke gern ein Igel. Der Autor lege nahe, dass 1913 viel mehr gewesen sei als der Endpunkt des langen 19. Jahrhunderts, hat der Kritiker Denis Scheck festgestellt: "Vielleicht, so Illies in seiner lesenswerten Revue eines Jahres, müssen wir das Jahr 1913 viel eher denken als eine Art Ideen-Rüstkammer der Moderne."

Das Publikum in den Kammerspielen wurde in Gruppen aufgeteilt, die alle unterschiedliche Szenen und Schauspieler erlebten. Ich gehörte zur Gruppe M, angeführt von Christina (Schelhas). Mit Louis Armstrong ("What A Wonderful World") und einem Schuss ging es auf der großen Bühne los, ganz wie im Buch "1913". Danach fanden wir uns im gespenstisch beleuchteten Verwaltungsgang wieder, wo Daniel Breitfelder als Oswald Spengler mit Hilfe von zwei Kassettenrekordern die vielen Ängste des Autors vom "Untergang des Abendlandes" monologisch ausschwitzte. Im Kabellager verkörperte Maya Haddad den liebeskranken Oskar Kokoschka: "Almi, Almi, Almi."

Im Raucherraum gab Sören Wunderlich Camille Claudels Seelenpein in einer grotesk leidenschaftlichen Travestie Ausdruck. Mit Anna von Haebler aßen wir im Lichtbüro Mohrenköpfe (ehemals Negerküsse), im Nebenraum durften wir den Maler Adolf Hitler vermuten. In der Tonwerkstatt erschien Wolfgang Rüter als pedantischer, bissiger Franz Kafka. Jonas Minthe schrieb als Brecht ein Gedicht im Farbenlager, Roland Silbernagl war ein an militärischen Begrifflichkeiten verzweifelnder preußischer Soldat in der Herrengarderobe.

Robert Höller improvisierte in der Schreinerei einen unflätigen Robert Musil herbei, der am August-Klima verzweifelte. Mareike Hein zeichnete in der Dekowerkstatt ein Video-Psychoporträt von Virginia Woolf, Benjamin Berger war auf der Unterbühne ein stummer Protest gegen Tierexperimente. Ein emotionaler Höhepunkt: Birte Schrein, die in der Damengarderobe die Unterleibsschmerzen von Else Lasker-Schüler nachempfand.

Samuel Braun hielt zum Schluss in der Statistengarderobe Karten vor eine Kamera, die unter anderem Fragen nach dem Wesen von Glück stellten. Die unterschiedlich ausgestalteten szenischen Miniaturen verdichteten sich zu Momentaufnahmen eines aufregenden Jahres. Der Abend machte Appetit auf mehr, er schuf eine direkte Verbindung zwischen Theater und Literatur. Danach wollte man Illies' geistreiches "1913" sofort (wieder)lesen.

Die nächsten Aufführungen: 2. November, 18 und 20 Uhr. Für Dezember sind die Termine noch nicht benannt. Karten gibt es in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.

Auf einen Blick

Das Stück: Ein szenischer Rundgang durch das kulturgeschichtlich aufregende Jahr 1913.

Die Inszenierung: Ein großes Vergnügen, das man sich erlaufen muss.

Die Schauspieler: Intensiv, ideenreich - so nah kommt man ihnen sonst nie.

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