Sängerin, Komponistin, Muse, Urmutter des Punk Nico-Anthologie beleuchtet Leben der Sängerin Nico

Bonn · Supermodel, Muse, Ur-Mutter des Punk: Eine faszinierende Anthologie beleuchtet das spektakuläre Leben der Kölner Sängerin Nico.

  Stark geschminkte Augen, leicht irrer Blick, volle Lippen: Die Bonner Fotografin  Ines Pörtener erfasste Nico bei einem  Konzert in der Zeche Bochum im Jahr 1982

Stark geschminkte Augen, leicht irrer Blick, volle Lippen: Die Bonner Fotografin Ines Pörtener erfasste Nico bei einem Konzert in der Zeche Bochum im Jahr 1982

Foto: Ines Pörtener

Er trifft sie an einem wolkenverhangenen Tag in der Cocktail-Lounge des Howard Johnson Hotels in Boston beim Nachmittagsfrühstück aus Bloody Mary und Bier. Ihre Stimme ist wie ihr Gesang – tief, klagend, ausdrucksstark – und klingt doch unbeteiligt, als sei sie 2000 Lichtjahre entfernt.

Wie sie aussieht? Fotos zeigen ihre lange Mähne, stark geschminkte, sehr intensive, leicht irre Augen und volle Lippen. An diesem Nachmittag im Jahr 1979 sitzt der Musikjournalist Jim Sullivan Nico gegenüber, Sängerin, Komponistin, Muse. Am Vorabend hat sie ein Konzert gegeben, ihr letztes Album liegt fünf Jahre zurück. Sie ist traurig wie ihre Musik, die „den schmalen Grat zwischen Sinnlichkeit und Düsternis“ beschreite, wie Sullivan erinnert.

Mit John Cale, mit dem sie seit „Chelsea Girl“ (1968) alle Alben aufgenommen hatte, hat sie sich verkracht; Sid Vicious, mit dem sie gerne „Drama of Exile“ aufgenommen hätte, ist gerade an einer Überdosis gestorben; auch um Jim Morrison trauert sie. Ob sie etwas Optimistischeres schreiben könne, fragt Sullivan. Sie antwortet: „So wird man beim Schreiben, wenn man den Krieg erlebt hat – man schreibt immerzu über düstere Dinge. Das Traurige hat etwas Beglückendes.“ Die 1938 in Köln als Christa Päffgen Geborene erlebte den Krieg als Kind, ihr Vater starb 1943.

1979 liegen Nicos große Zeiten etwas zurück. Anfang der 60er war sie nach einer Karriere als Supermodel für Fotografen wie Herbert Tobias und Willy Maywald sowie nach Auftritten in Filmen wie Federico Fellinis „La Dolce Vita“ und Vincente Minnellis „Le Chevalier des Sables“ zur Factory von Andy Warhol gestoßen. Sie wurde zur Muse des Pop-Art-Künstlers, der sie in einem Dutzend Filmen auftreten ließ, 1967 ihre erste Platte „The Velvet Underground & Nico“ (mit Lou Reed) produzierte und das Cover mit dem berühmten Bananenlogo beisteuerte.

Bis 1974 brachte sie sechs Alben heraus, die letzten drei produzierte Cale. Sie war Teil der Szene um Brian Jones, Jimi Hendrix, Morrison und Bob Dylan, Jackson Browne, Leonard Cohen und anderen. Sullivan sagt nach dem Gespräch: „Ich habe ein paar flüchtige Eindrücke erhascht, an der Oberfläche gekratzt, die scheinbar undurchdringlich ist.“

Das kann man von der gerade erschienenen Nico-Anthologie nun wahrlich nicht sagen. Das Buch mit dem so poetischen wie sperrigen Titel „Nico – Wie kann die Luft so schwer sein an einem Tag, an dem der Himmel so blau ist“, in dem Sullivans Erinnerung zu lesen ist, kreist diese faszinierende und großteils unnahbare Person mit 64 Beiträgen ein, die Manfred Rothenberger und Thomas Weber in Zusammenarbeit mit dem Institut für moderne Kunst Nürnberg zusammengebracht und herausgegeben haben. Ein exzellent recherchiertes, anregendes und aufregendes Kaleidoskop aus Essays und Interviews, Zeitzeugenstatements und Kunstwerken.

Buch gibt nicht vor, eine Biografie zu sein

Das Buch gibt nicht vor, eine Biografie zu sein, erscheint eher als inspirierte Spurensuche, als mitunter hochemotionale Annäherung und Hommage, als Porträt einer außergewöhnlichen Frau in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Dass Nico kräftig an der eigenen Legende strickte, wird nicht unterschlagen. Auch nicht ihre spätere Karriere als „notorischer Junkie, offenes Rasiermesser und Godmother of Goth“.

Zur Einstimmung empfehlen Rothenberger und Weber nicht nur die düsteren Hymnen aus „The Velvet Underground & Nico“, „Femme Fatale“ und „All Tomorrow‘s Parties“, und das Solodebüt „Chelsea Girl“, sondern besonders auch das zutiefst verstörende „The Marble Index“ (1968), das sie als „eine der anstrengendsten, dunkelsten und härtesten Platten des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen. Irre Klänge aus einer anderen Welt mit Nicos dunkler, durchdringender Stimme, die bisweilen nervt, nach Folter klingt. Das ganze eingewoben in eine irgendwie mittelalerlich-mysthisch daherkommende Streichermusik.

Neue Musik und der wabernde Klang von Nicos Harmonium erzeugen eine gespenstische, aufwühlende Atmosphäre. Die Pop-Art-Muse wechselt zur Avantgarde. Produzent Cale sagte, hier habe sich Nico als ernsthafte Musikerin bewiesen und ihr Image als blonde Sexbombe abgeschüttelt. „Deeper und verlorener als fast alles andere zieht Nico uns mit ihrer Musik in einen Strudel aus Einsamkeit und Ekstase, Hingabe und Verlorenheit“, schreiben die Herausgeber. Nicos „Index“ ist auch mal als „ultimatives Heroin-Album“ bezeichnet worden. Der Sänger Morrissey hat einmal gesagt: „Nicos Stimme ist wie der Klang eines Körpers, der aus dem Fenster geworfen wird. Ganz ohne Hoffnung – für diese Welt, für die nächste, oder die vorherige.“

Das ist die berühmte Nico der 1960er bis 1988, als sie auf Ibiza starb. Das Buch wirft aber auch Schlaglichter auf die junge Christa im Spreewald, ein kapriziöses Mädchen mit blonden Zöpfen, auf das begehrte Model, das im Berliner KaDeWe auftritt, das mit Sonnenhut unter Palmen posiert, mit einem wunderbaren Abendkleid von Heinz Ostergaard auf den Opernball geht oder sich in einem Modell von Dior lässig an der Seine in Szene setzt. Eine faszinierende, schöne Frau, die in den späten 50er Jahren auf vielen Titelblättern zu sehen war.

Ihr offenes, frisches, sauberes, sympathisches Gesicht passt in die 1950er, so wie ihre langen blonden Haare mit dem Pony, dem leicht verruchten Augenaufschlag, in die 1960er passen. Nico schafft den Typwechsel, wie auch der New Yorker Dichter Gerard Malanga 1967 schwärmte: „Wenn Schönheit existiert, so universell, dass sie unstrittig ist, dann verfügt Nico darüber. Ihr Gesicht ist perfekt, die Züge makellos: präziser Mund, die Nase gerade und feingemeißelt, das Gesicht umrahmt von einem Schleier hell glänzenden Haares.“ Malanga spricht von einer kühlen, unantastbaren Ausstrahlung, Nicos Identifikation mit der Garbo-Dietrich-Tradition.

Sie wäre gern Opernsängerin

Nico selbst kommt auch zu Wort. Der Musikjournalist Norbert Wendling erzählt, wie schwierig das war. „Ein Gespräch mit Nico kann nicht »normal« verlaufen. Die qualvolle und doch kühle Faszination ihrer Musik findet sich in ihrer Persönlichkeit und vor allem in ihrer Art zu sprechen wieder – Slow Motion mit eingeschobenen Pausen“, schreibt Wendling, der 1982 mit Nico sprach.

Sie will schreiben (aber keine Autobiografie). Sie wäre gern Opernsängerin, liebe den Free Jazz, anders als ihr Sohn, den sie mit Alain Delon hat. Dass man sie als Ur-Mutter des Punk sehe, findet sie positiv, ist sauer, dass die Plattenfirma den Verkauf von „Drama of Exile“ gestoppt hat. Ob sich der Titel auf sie beziehe (Nico lebt zu der Zeit in England, war zuvor von New York nach Berlin gezogen)? Sie: „Er bezieht sich auf mich und andere.“

Es ist ein zähes Gespräch. Die Bombe platzt erst bei der letzten Antwort mit einem Bekenntnis zum Top-Terroristen der RAF. In Berlin hatte sie alle drei Strophen des Deutschlandliedes gesungen und Pfiffe geerntet. „Ich habe dieses Lied Andreas Baader gewidmet. Ich finde es schade, dass es mit seinen politischen Vorstellungen nicht geklappt hat, denn ich glaube, dass Deutschland wieder faschistisch wird.“

Manfred Rothenberger, Thomas Weber (Hgg.): Nico – Wie kann die Luft so schwer sein an einem Tag, an dem der Himmel so blau ist. Starfruit,
622 S., 35 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort