Musikstreaming Klassik im Netz

Bonn · Warum spezielle Streaming-Portale für Hörer klassischer Musik sinnvoll sein können.

 Stars des Streaming-Zeitalters: Pianist Glenn Gould (l.) und Dirigent Herbert von Karajan während einer Aufnahme im Jahr 1957.

Stars des Streaming-Zeitalters: Pianist Glenn Gould (l.) und Dirigent Herbert von Karajan während einer Aufnahme im Jahr 1957.

Foto: picture-alliance/ dpa

 Musikstreaminganbieter kennen die Vorlieben ihrer Kunden sehr genau. Sie wissen nicht nur, was wir zuletzt gehört haben, sondern können anhand der Songs auch ziemlich genau vorhersagen, was wir morgens, mittags oder abends, in den Ferien, bei der Arbeit oder beim Joggen hören wollen. Auch die in früheren Zeiten ebenso mühsam wie liebevoll zusammengestellten und mit dem Kassettenrekorder aufgenommenen Mixtapes erstellt ein Anbieter wie Spotify wie von Zauberhand – ohne uns befragen zu müssen. Die Algorithmen funktionieren bestens.

Was für Popfans längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist, gilt für Klassik-Enthusiasten weit weniger. Die nämlich lassen sich nicht so gut durchleuchten. Das hat viele Gründe. Da ist die in der Popmusik vorherrschende Einheit von Werk und Interpret: David Bowies „Heroes“ bleibt ewig mit seiner Stimme verbunden, während Ludwig van Beethovens neunte Sinfonie in Hunderten Aufnahmen unterschiedlicher Interpreten existiert. Wenn die Spotify-Spione herausfinden, dass ich Mozarts Klaviersonaten mag, wissen sie noch lange nicht, ob András Schiff oder Glenn Gould sie für mich spielen soll. Ein ebenfalls wichtiger Grund ist die Komplexität klassischer Werke: Ein mehrsätziges Streichquartett, eine Sinfonie oder gar eine abendfüllende Oper sind halt weniger Playlist-kompatibel als ein Popsong.

Wenn ein Klassikhörer Spotify, Deezer, Apple oder anderer Streamingdienste nutzt, muss er selbst sehr genau wissen, was er will. Das Ergebnis von Spotifys Algorithmen kann im Klassik-Sektor schon ziemlich nerven, wenn etwa dem eleganten zweiten Satz aus Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6 unvermittelt der extrem bruitistische Satz „Propulsivly“ aus Joey Roukens „Horizon 9“ folgt, wonach sich wiederum das Andante aus Bachs Sonate in a-Moll für Violine, gespielt von Hilary Hahn, anschließt.

Da sind spezielle, kuratierte Listen hilfreicher, wie sie neuere, auf Klassik spezialisierte Streamingangebote Idagio und Grammofy mittlerweile vorhalten. Das gibt es auf Idagio zum Beispiel die Liste der „Top Five“, auf der unterschiedliche Künstler ihre Favoriten zu einem bestimmten Thema benennen und in einem kleinen Essay begründen. Die Pianistin Sophia Pacini zum Beispiel ist mit der „Top Five: Clara Schumann und Fanny Hensel“ vertreten, in der sie sich unter anderem für Clara Schumanns Klavierkonzert stark macht.

Klassik-Streamingdienste bieten kuratierte Playlists an

Bei Grammofy kann man den sogenannten Curation-Modus einschalten, um den Werkeinführungen der Kuratoren zu lauschen. Mit im Team, das aus Experten von BBC Music und dem Grammophone Magazine besteht, ist zum Beispiel die britische Journalistin Charlotte Gardner, die in ihren zirka einmütigen Beiträgen prägnante Hintergründe zu Werken und Zyklen wie Igor Strawinskys Ballett-Klassikern liefert. Die kuratierten Playlists und die mit Informationen angereicherten Aufnahmen sind ein deutlicher Mehrwert für Klassikfans von Grammofy und Idagio gegenüber den großen Playern.

Bei den beiden Klassik-Streamingdiensten handelt es sich um Start-ups, die noch relativ neu auf dem Markt sind. Grammofy ging 2016 zum ersten Mal online, verabschiedete sich aber bereits 2017 überraschend wieder, um seit März 2018 mit einer Neuerung wieder online zu gehen: Weil das Unternehmen die Erfahrung machte, dass nur wenige Nutzer bereit sind, parallel zu bestehenden Streaming-Abos noch ein spezielles Klassik-Abo zu buchen, kam man auf die Idee, das Klassikangebot in andere Streamingdienste einzubetten. So lässt sich Grammofy nun kostenlos nutzen, sofern man Prime-Kunde von Spotify ist. Eine Zusammenarbeit mit weiteren Diensten wie Deezer solle irgendwann folgen, verspricht Grammofy-Gründer Lukas Krohn-Grimberghe.

Idagio arbeitet hingegen unabhängig. Den 2015 gegründeten Dienst zu abonnieren, lohnt sich vor allem für Menschen, die ausschließlich klassische Musik hören. Für 9,99 Euro im Monat steht ihnen ein musikalisches Universum zur Verfügung. Gründer ist der Musikmanager Till Janczukowicz, der bis 2011 geschäftsführender Gesellschafter der Columbia Artists Management Inc. war. Er holte den Streamingdienstpionier Christoph Lange mit an Bord, der 2006 bereits das Kölner Start-up Simfy gegründet hatte, das den deutschen Musikstreamingmarkt so lange beherrschte, bis der schwedische Gigant Spotify ins Land kam und ihn verdrängte.

Auch die Künstler sollen bei den Klassikanbietern mitverdienen. Die Höhe der Lizenzabgaben wird bei Idagio – wie auch bei Grammofy – nicht nach Marktanteilen der Labels und angespielten Songs ermittelt, sondern nach tatsächlich gehörten Sekunden. „Wenn ein Nutzer zu 60 Prozent Ivo Pogorelich hört, gehen 60 Prozent dessen, was der Nutzer zahlt, zu Ivo Pogorelich“, verspricht Janczukowicz.

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