Johannes R. Becher Der Mann mit den vielen Gesichtern

Dichter und DDR-Funktionär, Stalin-Hymniker und Friedensbeschwörer, Junkie und Lebemann: Vor 125 Jahren wurde Johannes R. Becher geboren. Deutschland, einig Vaterland“ ist sein berühmtester Vers.

 Johannes R. Becher, damals Kulturminister der DDR, 1955 bei einer Diskussion in München.

Johannes R. Becher, damals Kulturminister der DDR, 1955 bei einer Diskussion in München.

Foto: picture-alliance/ dpa

Im Club der toten deutschen Dichter ist er wahrscheinlich der toteste. Zumindest im Westen Deutschlands. Dort wird Johannes R. Becher als Stalin-Verklärer und DDR-Staatsdichter geschmäht und ansonsten weitgehend totgeschwiegen, sein ausuferndes Werk ist meist nur noch antiquarisch aufzutreiben. Die DDR hingegen beerdigte ihren „Dichter des Friedens“ mit allem Pomp und Pathos, und noch heute gibt es in jeder größeren Stadt des deutschen Ostens eine Johannes-R.-Becher-Straße. Genau das hatte sich Becher in seinem Testament ausdrücklich verbeten: „Das Leben schlage hohe Wogen und mische weiter – ohne solch einen idiotischen, längst überholten Leichenfirlefanz und Mummenschanz.“

Für eine kurze, freilich entscheidende Zeitspanne in der gesamtdeutschen Geschichte werden ausgerechnet drei Becher-Wörter prägend, die die wenigsten im Westen ihrem Autor zuordnen können: „Deutschland, einig Vaterland“ – das ist die vierte Zeile der DDR-Nationalhymne und die Losung der Wendezeit. Johannes R. Becher hat sie geschrieben, 1949, in dem Jahr, in dem sich im Mai die Bundesrepublik konstituiert und im Oktober die Deutsche Demokratische Republik. Becher bekommt den Auftrag, die DDR-Hymne zu schreiben, er liefert schnell.

Auferstanden aus Ruinen

Und der Zukunft zugewandt,

Lass uns dir zum Guten dienen,

Deutschland, einig Vaterland.

Alte Not gilt es zu zwingen,

Und wir zwingen sie vereint,

Denn es muss uns doch gelingen,

Dass die Sonne schön wie nie

Über Deutschland scheint.

Schönberg-Schüler Hanns Eisler schreibt die Musik dazu, im Geburtshaus von Chopin spielt er sie erstmals – auf dem Flügel von Chopin – dem Dichter vor. Eines ist gewiss: Für diesen Text und diese Musik muss man sich nicht schämen. Der DDR-Führung allerdings wird mit der Zeit das „einig Vaterland“ ziemlich peinlich, mit Beginn der 70er Jahre erklingt bei offiziellen Anlässen nur noch die Musik ohne die Becher-Verse. Bei den Bonner Gesprächen zum Einigungsvertrag versuchen die DDR-Vertreter, „Auferstanden aus Ruinen“ zu retten. Vergebens.

Johannes R. Becher bleibt im Westen ungehört. Das kennt er. 1951 verfasst er im Auftrag der DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend einen neuen Text für Beethovens Chorfantasie, die sich im Original mit etwas blumigen Versen des österreichischen Dichters Christoph Kuffner auseinandersetzen musste. Beethoven war davon nicht sonderlich begeistert. Bei Kuffner heißt es beispielsweise: „Wenn der Töne Zauber walten / Und des Wortes Weihe spricht, / Muss sich Herrliches gestalten, / Nacht und Stürme werden Licht.“ Becher macht daraus: „Wo sich Völker frei entfalten / Und des Friedens Stimme spricht, / Muss sich Herrliches gestalten / Nacht und Träume werden Licht.“

Diese Fassung hat es nie in den Westen geschafft. 1970, als man sich hüben wie drüben rüstet, den 200. Geburtstag Ludwig van Beethovens zu feiern, erklingt im Osten die Chorfantasie natürlich in der Becher-Fassung, und Willi Stoph, der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, schickt noch eine Botschaft voraus: „Das Erbe Beethovens ist schon längst nicht mehr in seiner Geburtsstadt Bonn beheimatet. Es kann nicht von einem Staat bewahrt und fortgeführt werden, in dem die humanistischen Ideen nichts, das maßlose Profitstreben alles bedeuten.“

Johannes R. Becher, ein Zerrissener zwischen Ost und West, ein Zerrissener freilich auch in sich selbst, Dichter und Funktionär, Aufklärer und Doktrinär, Stalin-Hymniker und Friedensbeschwörer, Lebemann und Parteisoldat – eine der spannendsten und widersprüchlichsten Figuren der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Geboren wird Becher am 22. Mai 1891 in München, der Vater ist Jurist am Oberlandesgericht, streng und kaisertreu. Der Junge entwickelt, wie die Lehrer anmerken, „kein wärmeres Interesse“ für die Schule, schreibt lieber Gedichte. Heinrich von Kleist betet er an, jenen Kleist, der sich und seine Freundin Henriette Vogel am Wannsee in den Tod geschossen hat.

Der Pennäler Becher nimmt seinen Kleist wortwörtlich. Am Ostersonntag des Jahres 1910 kommt es zum Doppelselbstmordversuch mit seiner Geliebten, der 26-jährigen Zigarrenhändlerin Franziska Fuß. Sein Schuss trifft sie tödlich, er selbst verwundet sich schwer, wird in mehrstündiger Operation gerettet. Vorbereitet war alles sehr gründlich, es gibt letzte Notizen und den Wunsch, mit Blumenkränzen ums Haupt bestattet zu werden. Der Lyriker Karl Henckell soll die Totenrede halten. „Ich war“, hat Becher ihm dazu geschrieben, „ein Dichter mit Leib und Seele. Ich habe als Dichter gelebt und bin als Dichter gestorben.“ Dem Vater gelingt es, das Verfahren wegen Tötung auf Verlangen niederzuschlagen, dem Schüler wird Unzurechnungsfähigkeit bescheinigt.

Die Kleist-Hymne „Der Ringende“ ist das erste Werk Bechers, das anderthalb Jahre später gedruckt erscheint. Er ist ein Ekstatiker der Sprache, kaum jemand sonst wirft derart ungezügelt mit Frage- und Ausrufezeichen und Gedankenstrichen um sich.

Wo ist mein Weg?! Da? Dort?

Oder Da? Oder dort?!–

Felstrümmer ragen

Blöd und stumpf aus der kargen

Gleichförmigen Trostlosigkeit ...

Auf Sand und Fels glüht

Der blendende Tag.

Oh brennendes Herz!

Ohhh Erde!

Wo – ist – – mein – – – Weg – – – –.

Bechers Weg führt in einen Fünf-Jahres-Fördervertrag mit dem Insel-Verlag, vor allem aber in die Morphiumsucht. Unzählige Entziehungskuren und Rückfälle, mehrere Selbstmordversuche – über den Junkie Becher, der 1915 in die Jenaer Psychiatrie eingeliefert wird, sagt ein ärztlicher Vermerk: „Morphinist. Ursache: psychische Gründe. Stand damals vollkommen unter dem Einfluss der Weiber. Maßloser Geschlechtsverkehr. Hat nach eigenen Angaben täglich etwa 40 Spritzen einer zweiprozentigen Morphiumlösung gespritzt.“

Die Sprache verschlägt es dem Dichter freilich nicht, sie explodiert förmlich. In seinem „Widmungsblatt zur russischen Revolution 1917“ tönt es: „Augen zu: Lasst Guillotinen spielen! / Menschenknäuel übern Platz gefegt.“ 1919 tritt Becher der gerade gegründeten KPD bei, die Partei wird seine Rettung sein, ihr unterwirft er sich. „Was wär ich, ohne dass mich die Partei / In ihre Zucht genommen, ihre Strenge!? / Ein wilder Spießer, der mit Wutgeschrei / Sich selbst zerfetzt und dabei eine Menge / von Alkohol vertilgt.“

Becher wird Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft kommunistischer Schriftsteller, schreibt Agitprop-Gedichte und futuristische Maschinenrhythmen. Aber er kann auch anders. Sein behutsames Gedicht „Im Erinnerungswind“ beispielsweise ist von zeitloser Schönheit:

Ein Blick, der von der Seite

Nur flüchtig mich gestreift –

Ein Wort, das in der Weite

Der Zeit man erst begreift –

Ein Händedruck, kaum spürbar

Und beinah wie versteckt –

Das blieb. Blieb unverlierbar

Von keiner Zeit verdeckt.

Als die Nazis an die Macht kommen, emigriert der Schriftsteller in die Sowjetunion. Es sind schwierige Jahre unter den Emigranten, an denen Stalins Säuberungswellen nicht vorbeigehen. Gleichwohl bleibt Stalin für Becher der Retter in allen Ängsten, nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts lobhudelt der Dichter „An Stalin“: „Du schützt mit deiner starken Hand / Den Garten der Sowjetunion. / Und jedes Unkraut reißt du aus. / Du, Mutter Russlands größter Sohn, / nimm diesen Strauß. / Nimm diesen Strauß mit Akelei / zum Zeichen für das Friedensband, / das fest sich spannt zur Reichskanzlei.“

Und 1953 reimt der Dichter, den seine Gegner auch schon mal „Johannes Erbrecher“ nennen, schier Unfassbares: „Es wird ganz Deutschland einstmals Stalin danken“, prognostiziert er verwegen: „Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte / Der Apfelbäume an dem Bodensee, / Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte, / Und winkt zu sich heran ein scheues Reh.“ Das geht so weiter, insgesamt 27 schleimige Strophen lang. „Ich habe große Schuld“ wird Becher später dazu sagen. 30 Jahre nach seinem Tod erscheinen Texte, in denen er mit dem DDR-Sozialismus abrechnet.

Johannes R. Becher ist nach dem Krieg einer der ersten Exilschriftsteller, der in die deutsche Heimat zurückkehrt. Er gründet den „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“, er ist der Vorzeige-Dichter der DDR, Mitglied der Volkskammer, Ehrendoktor der Humboldt-Universität, wird zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt und 1954 zum Minister für Kultur ernannt.

Auch in dieser Position bleibt er ein Zerrissener. Seine Versuche, zu einem gesamtdeutschen Kulturaustausch zu kommen, werden vom Westen zurückgewiesen, im Osten interveniert er während der Schauprozesse gegen die Partei-Reformer Harich und Janka im Politbüro, kuscht aber letztlich. Zum Märtyrer ist er nicht geboren, er genießt lieber das West-Berliner Nachtleben mit seinen Strichern und Huren.

Johannes R. Becher stirbt am 11. Oktober 1958 nach einer Krebsoperation in Berlin. In seinem Gedicht „Gesichter“ hat er hellsichtig festgehalten: „Viele Gesichter trug ich, viele Gesichter / waren zu tragen mir auferlegt. / Wenn ich lachte, war oft die Haut nur/vom Lachen bewegt.“

Aus den vielen Gesichtern des Johannes R. Becher entsteht ein Jahrhundert, auch aus seiner Sprache. Lässt man bei all den Romanen, Dramen, Essays und Gedichten den Partei-Schwulst beiseite, so bleiben aufregende Dokumente des Expressionismus und nachdenkliche Zeugnisse der Nachkriegszeit. Ein Gedicht sollte in keinem deutschen Schulbuch fehlen, Bechers ganz stille, ergreifende Ballade von den „Kinderschuhen aus Lublin“. Als die Rote Armee 1944 das Vernichtungslager Majdanek/Lublin befreit, findet man dort in den Lager-beständen unter anderem Tausende von Kinderschuhen. In der Ballade heißt es:

Es sang ein Lied die deutsche Tante.

Strafft sich den Rock und geht voraus,

Und dort, wo heiß die Sonne brannte,

Zählt sie uns nochmals vor dem Haus.

Zu hundert, nackt in einer Zelle,

Ein letzter Kinderschrei erstickt ...

Dann wurden von der Sammelstelle

Die Schuhchen in das Reich

geschickt.

Es schien sich das Geschäft

zu lohnen,

Das Todeslager von Lublin.

Gefangenenzüge, Prozessionen.

Und – eine deutsche Sonne schien.

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