Pressekodex Der lange Streit um Ziffer 12.1

Nach der Änderung im Pressekodex hat auch die Nachrichtenagentur dpa angekündigt, häufiger die Nationalität von Straftätern zu nennen. Das mag mehr Transparenz schaffen. An subjektiven Sichtweisen ändert es nichts.

 Im März änderte der Deutsche Presserat den Pressekodex. Seitdem ist „öffentliches Interesse“ ausschlaggebend dafür, ob Angaben zur Herkunft von Tatverdächtigen gemacht werden. Beschleunigt hatte sich die öffentliche Diskussion durch die Flüchtlingskrise.

Im März änderte der Deutsche Presserat den Pressekodex. Seitdem ist „öffentliches Interesse“ ausschlaggebend dafür, ob Angaben zur Herkunft von Tatverdächtigen gemacht werden. Beschleunigt hatte sich die öffentliche Diskussion durch die Flüchtlingskrise.

Foto: picture alliance / dpa

Wie sehen Sie das eigentlich: Sollten Medien bei der Nachricht über eine Straftat bestimmte Angaben zu den Verdächtigen verschweigen, weil daraus ein Generalverdacht gegen ganze gesellschaftliche Gruppen entstehen könnte? Oder wollen Sie Ihre eigenen Schlüsse aus den Fakten ziehen? Für neuen Schwung in der alten Diskussion sorgt der Deutsche Presserat. Der hatte sich einem Paradigmenwechsel lange Zeit verschlossen – um ihn kürzlich doch zu vollziehen.

Über Jahrzehnte schien der Pressekodex – eine Art freiwillige Selbstverpflichtung, formuliert aus der noch frischen Erfahrung der Diktatur – in Stein gemeißelt. So regelte eine der 16 Ziffern, dass die Zugehörigkeit von Verdächtigen und Tätern „zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten“ nur dann erwähnt werden solle, „wenn für das Verständnis des Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“.

Was konkret ein solcher „Sachbezug“ ist, war im Alltag Auslegungssache. Dann kam die Silvesternacht 2015/16 mit den hundertfachen Übergriffen auf Frauen durch überwiegend nordafrikanische Männer. Der Geist einer Grundsatzdiskussion war aus der Flasche.

Auch nach der Änderung bleiben Fragen

Und während manche Medien noch Tage später ebenso verschwurbelt wie beharrlich von „jungen Männern“ als Tätern berichteten, kritisierten andere die Richtlinie des Pressekodex als antiquiert, weil es nun einmal zur Informationspflicht von Journalisten zähle, den Zuschnitt bestimmter Tätergruppen ebenso zu benennen wie die Zunahme bestimmter Straftaten durch den Flüchtlingszuzug. Ein Kompromissvorschlag ging so weit, konsequent die Nationalität zu nennen, egal ob es sich um Deutsche handelt oder um Ausländer.

Der Presserat lehnte eine Änderung ab – bis zu diesem Frühjahr: In der neuen Fassung der Richtlinie mit der Ziffer 12.1 heißt es nun, bei der Berichterstattung über Straftaten sei dafür Sorge zu tragen, dass „die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“

Unterm Strich stellt der Presserat damit jedem Journalisten die (Nicht-)Erwähnung der Täterherkunft anheim. Dennoch bleiben Fragen offen. Etwa die, was ein „begründetes“ öffentliches Interesse ist. An einer Antwort versucht sich jetzt die Deutsche Presseagentur (dpa). Sie kündigte Anfang Juni als Reaktion auf den Presserat an, fortan häufiger die Nationalität von Straftätern anzugeben.

Die Nationalität im "Notizblock" verraten

„Bei besonders schweren Straftaten wie Mord, Totschlag, Folter, Entführung, Geiselnahme sehen wir das “begründete öffentliche Interesse„ künftig als gegeben an und nennen daher die Nationalität in der Regel direkt im Text“, sagte dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger dem Branchendienst „kress“. Gerade die dpa hatte lange Zeit strikt an den hergebrachten Richtlinien des Presserates festgehalten. Und dies in teilweise bemerkenswerter Form: So verriet die Agentur ihren Kunden zuletzt die Nationalität eines Delinquenten immer häufiger im sogenannten „Notizblock“, einem nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Anhang zu einer Nachricht – nach dem Motto: Wir wissen etwas, schreiben es aber nicht.

Spätestens hier betrat die journalistische Praxis ein Konfliktfeld zu einer anderen Richtlinie: Ziffer 1 des Pressekodex zählt die „wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit“ zu den „ober-sten Geboten der Presse“. Und schließt nicht der Satz „Eine Zensur findet nicht statt“ in Artikel 5 des Grundgesetzes Formen von „Selbstzensur“ gleichermaßen aus?

Derlei war stets von Kritikern zu hören, die dahinter eine politische Agenda vermuteten: Angeblich sollte – womöglich gar staatlich verordnet – vertuscht werden, wie hoch die Kriminalität unter Ausländern in Wirklichkeit ist. Kurioserweise tritt hier eine Art der Verdachtshypothese zutage, die sich je nach Blickwinkel umkehren und als Nährstoff für jedwedes „alternativlose“ Weltbild instrumentalisieren lässt.

So mag der eine seine Meinung vom Brandanschlag auf das Asylbewerberheim bestätigt sehen, der andere von der Flüchtlingsunterkunft als Basislager der albanischen Einbrecherbande. Hüben wird die Nachricht vom verprügelten Afrikaner Erregungspotenzial entfalten, drüben jene von der vergewaltigten Studentin. Und gleiches gilt nun einmal für das bewusste Nennen sowie das gezielte Verschweigen von Fakten zur Person.

Dilemma mit Zeug zur griechischen Tragödie

Die Neufassung des Pressekodex mag zu mehr Transparenz beitragen – menschliche Empfindungen und subjektive Wahrnehmung ersetzt sie nicht. Der Journalist jedoch findet sich statt auf dem Königsweg in einem Dilemma mit dem Zeug zur griechischen Tragödie wieder: Wie immer er entscheidet, es kann nur falsch sein.

Doch ist bekanntlich auch die Katharsis Bestandteil des antiken Dramas. Die könnte darin bestehen, dass Medienverantwortliche sich auf eigene Qualitäten wie Berufsethos, Faktentreue und Haltung verlassen. Wer zu Sensationslust und Pauschalisierung Abstand wahrt, muss sich auch keine Gedanken darüber machen, auf welche Mühlen er Wasser lenken könnte.

Eine Zeitung, deren Leser über andere Kanäle erfahren müssen, dass ihnen etwas verschwiegen wird, provoziert Vertuschungsvorwürfe und setzt auf Dauer ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Zumal sich die Frage stellt, welches Bild Medien von ihren Lesern haben, wenn sie ihnen unter dem Generalverdacht endogener Fremdenfeindlichkeit fürsorglichen Betreuungsjournalismus verordnen.

Vielleicht hat sich auch der Blickwinkel verzerrt. Denn dass reflektierende und verantwortungsbewusste Leser gegenüber überspannten Blitzableitern im Netz immer noch die deutliche Mehrheit stellen dürften, kam in den jüngsten Debatten über Hasskommentare ein wenig kurz.

Julia Jäkel, die Chefin von „Gruner + Jahr“, sagte in dieser Woche bei einem Kongress: „Soziale Netzwerke bilden nicht Realität ab, sondern sie erzeugen Realität.“ Letztlich wird also an den „echten“ Journalisten eine Aufgabe hängenbleiben, die ihnen von Berufs wegen nicht ganz zu Unrecht zugetraut wird: Die eigene Vernunft einzusetzen und dem Leser ein eigenes Urteil zuzutrauen. Mündigkeit nennt man das in anderen Zusammenhängen.

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