Detektiv, Voyeur oder Müßiggänger? "Der Flaneur" im Kunstmuseum Bonn

Bonn · Das Kunstmuseum Bonn beleuchtet in einer herausragenden Schau das Phänomen des Flaneurs. 160 Werke von 68 Künstlern schlagen einen Bogen vom Impressionismus bis zur Gegenwart

 Flaneur-Fratzen: Rudolf Schlichters „Hausvogteiplatz“, um 1926, Sammlung Christiana und Volker Huber. FOTO: © EDIITION UND GALERIE VOLKER HUBER

Flaneur-Fratzen: Rudolf Schlichters „Hausvogteiplatz“, um 1926, Sammlung Christiana und Volker Huber. FOTO: © EDIITION UND GALERIE VOLKER HUBER

Foto: Kunstmuseum

Ist er nun ein Voyeur oder gar ein Detektiv in eigener Sache? Ist er gefährlich, verdächtig? Oder ein Sammler, Jäger, Getriebener? Vielleicht auch nur ein Müßiggänger wie sein Vorgänger, der adelige Dandy, der mit aufreizender Unbekümmertheit allen ökonomischen Zwängen gegenüber mehr oder weniger blasiert seine Kreise zog?

Der Flaneur, um den es hier geht, ist seit dem 19. Jahrhundert in Paris die bürgerliche Version des Dandys, ein Beobachter des städtischen Treibens, Teil der Menge und doch Individuum, das seine Umwelt, die Passagen und Boulevards, die Menschen auf seinen Erkundungszügen mustert und analysiert.

Die Literatur hat das Phänomen des Flaneurs breit beleuchtet. Charles Baudelaire etwa sah im Flaneur den Einsamen, der „die große Wüste der Menschen unablässig durchwandert“. Walter Benjamin sah im Flaneur den modernen Menschentyp überhaupt. Auch Malerei und Fotografie haben sich intensiv mit dem Leben und der Umwelt der Flaneure befasst.

Es gibt Beispiele in der herausragenden Ausstellung „Der Flaneur vom Impressionismus bis zur Gegenwart“ im Kunstmuseum Bonn, in der Fotografie und Malerei sich im Angesicht der Flaneure frappierend nahekommen: Gemälde fangen das Spontane, die Geste, Lichtreflexe, Bewegungen schnappschussartig ein, Kompositionen von Jean Béraud – eine der Entdeckungen der Schau –, Louis Anquetin und Gustave Dennery nehmen quasi vorweg, was Fotokünstler wie Brassaï, Alfred Sieglitz, Otto Steinert und viele andere im 20. Jahrhundert in ihren atmosphärischen Bildern zeigen.

Das Phänomen wird in allen Facetten ausgeleuchtet

Erstmals überhaupt wird die Geschichte des Flaneurs aus dem Blickwinkel von Malerei und Fotografie in einer umfassenden Schau erzählt: 160 Werke von 68 Künstlern schlagen einen Bogen vom Impressionismus bis zur Gegenwart, vom ausgelassenen Treiben auf dem Pariser Boulevard (Adolph von Menzel) bis zur virtuellen Städteerkundung per „Google View“ (Johanna Steindorf). Das Phänomen wird in allen erdenklichen Facetten ausgeleuchtet. Seit Jahren recherchieren die Kuratoren der Schau, Volker Adolphs und Stephan Berg. Die Leihgeberliste reicht von der Tate London über das Pariser Musée d'Orsay bis zum Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid.

Sechs Kapitel führen durch die spannende Welt der Flaneure, deren Metropolen in erster Linie Paris, wo es August Macke als dem „gelobten Land des Flaneurs“ 1907 hinzog, und Berlin sind, wo der Expressionist Ernst-Ludwig Kirchner seine unvergesslichen Straßenszenen und der Neue Wilde Helmut Middendorf 1979 das Zucken düsterer Leiber im Kult-Club „SO36“ malten.

Doch man lernt in dieser sehr gelungenen Schau auch andere Hotspots kennen. Beat Streuli zeigt ein fesselndes Foto- und Videopanorama von Istanbul. Die junge Candida Höfer entdeckte 1968 Liverpool für sich und schuf eine wunderbare Fotoserie. Tod Papageorge, Lee Friedlander und Gary Winogrand waren in New York unterwegs. Sogar Bonn war einmal ein Pflaster für Flaneure: August Macke hat sich von seinem Atelier aus auf die Lauer gelegt, Peter Piller unternahm als Künstler-Flaneur 2006 eine gut dokumentierte „Peripheriewanderung“ rund um Bonn.

Aber natürlich ist Paris die Nummer eins. Camille Pissarros Blick auf den überfüllten Boulevard Montmartre am Mardi Gras, Karnevaldienstag, im Sonnenuntergang, oder auf verschneite Alleen, oder Auguste Chabauds Pariser Nachtimpression vom Gare du Nord lassen nachvollziehen, warum Paris zum Mekka der Flaneure wurde.

Berlin als Gegenmetropole

Berlin erscheint in der Schau als Gegenmetropole: härter, widersprüchlicher. Zwar malte Lovis Corinth mit der lockeren Hand eines späten Impressionisten den Boulevard Unter den Linden, doch Kirchners Kokotten, die Fratzen von George Grosz, Rudolf Schlichters dumpfe Flaneur-Karikaturen, Ludwig Meidners düstere, aggressive Schattenspiele sowie Karl-Horst Hödickes apokalyptische Szenerie rund um den Bahnhof Zoo zeigen die Kehrseite der Idylle.

Und was macht der moderne Flaneur? Folgt man dem Fotokünstler Thomas Struth, geht er ins Museum, etwa ins Art Institute of Chicago, um sich in Gustave Caillebottes Ikone aller Flaneurbilder, „Paris im Regen“, zu vertiefen. Das berühmte Bild konnte nicht ausgeliehen werden, kam aber durch Struths Großfoto nach Bonn, wo es mit Ansichten der Pariser Rue Aubert, um 1890, und vom Potsdamer Platz (1925) die Schau eröffnet.

Der moderne Flaneur liebt das vermeintlich Abgründige wie Jeff Wall, der in seinem Großfoto die unfreiwillige nächtliche Begegnung zweier Passanten im Blitzlicht zum Krimi gefrieren lässt. Der Flaneur sieht die Welt kleinteilig und zersplittert mit Corinne Wasmuths verpixelter Malerei, begibt sich wie Johanna Steindorf per „Google View“ auf die Suche, fährt wie Christoph Rütimann mit der der Kamera die Geländer der Metropole London entlang. Flanieren bleibt eine Leidenschaft, das Entdecken eine menschliche Notwendigkeit. Man wünscht der ambitionierten Bonner Schau sehr viele Kunstflaneure.

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