Lesetipps für die Urlaubszeit Das sind unsere Buchtipps für den Sommer

Bonn · Endlich Ferien! Endlich ist Zeit zur Lektüre! Welche Bücher sollen's denn sein? Das dichterische Werk der trinkfesten Amerikanerin Dorothy Parker? Oder zum Ausgleich ein wenig chinesische Science-Fiction? Sechs Rezensenten des General-Anzeigers geben Tipps.

Der Fotokünstler Thomas Struth ist für seine Bilder von Menschen in Museen bekannt. Hier: ein Blick ins Art Institute of Chicago, 1990.

Der Fotokünstler Thomas Struth ist für seine Bilder von Menschen in Museen bekannt. Hier: ein Blick ins Art Institute of Chicago, 1990.

Foto: Cornelius Völker, 2016 VG Bild-Kunst Bonn/Courtesy Schirmer/Mosel

Diese Bücher empfiehlt Bernhard Hartmann

Florence Braunstein/Jean-François Pépin: 1 Kilo Kultur - Das wichtigste Wissen von der Steinzeit bis heute

Dieses Buch ist schon im Titel ein Statement gegen das E-Book: Es heißt schlicht "1 Kilo Kultur". Der Titel ist unbedingt wörtlich zu nehmen. Inhaltlich ist der fast 1300 Seiten dicke Wälzer ein Abriss der menschlichen Kulturgeschichte von der Vor- und Frühgeschichte bis zum noch jungen 21. Jahrhundert und trotz des hübsch ironischen Titels ein sehr ernst gemeintes Unternehmen.

Dass es sich beim Autorenduo Florence Braunstein und Jean-François Pépin um Franzosen handelt, heißt nicht, dass sie die Welt ausschließlich durch die französische Brille betrachten. Sie versuchen vielmehr, die Geschichte der kulturellen Entwicklung der Menschheit in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu beschreiben.

Das ist sicher ein naiver, aber gerade deshalb auch ein mutiger Ansatz. Denn es ist auf der einen Seite schlicht unmöglich, etwa die chinesische Kultur mit derselben Kenntnis und intellektuellen und emotionalen Durchdringung zu beschreiben wie die eigene abendländische mit ihren literarischen, musikalischen und künstlerischen Hervorbringungen.

Dass sie es dennoch tun, ist bewundernswert und im Ergebnis auch sehr lesenswert.

Das gilt nicht nur für die fernöstliche Kultur, sondern auch für die Darstellung des mittelalterlichen Afrikas oder des amerikanischen Kontinents vor seiner Entdeckung durch Columbus.

Man kann dieses wunderbare Buch von der Seite eins bis zur Seite 1296 durcharbeiten, es eignet sich jedoch ebensogut zum Schmökern. Und wer aus Platznot oder wegen des Gewichts "1 Kilo Kultur" doch lieber in seiner Null-Gramm-Variante lesen möchte, dem kann auch geholfen werden: Als E-Book ist es auch zu haben. (C.H. Beck Verlag, 1296 S., 28 Euro)

Norbert Abels: Benjamin Britten

Der englische Komponist Benjamin Britten hatte das große Pech, im Jahre 1913 geboren worden zu sein. Die Musikwelt feierte den 100. Geburtstag der Operntitanen Richard Wagner und Giuseppe Verdi. Das ließ für Brittens kommenden runden Geburtstag wenig Raum für angemessene Würdigungen, wie man zuletzt 2013 beobachten konnte. In diesem Jubiläumsjahr schwoll der Literaturberg zu Wagner und Verdi noch einmal mächtig an, während es zugleich nichts daran änderte, dass über Britten bis auf eine schmale Rowohlt-Monografie noch keine Biografie auf dem Markt war. Nicht einmal eine Übersetzung aus dem angelsächsischen Raum war existent.

Glücklicherweise hat der Autor der Rowohlt-Monografie Norbert Abels nun eine umfangreiche Biografie vorgelegt, die endlich mit Leben und Werk Benjamin Brittens vertraut macht. Die Lektüre ist spannend, sowohl in Bezug auf die kenntnisreichen Werkanalysen als auch auf das Leben des Komponisten, der in seiner Jugend wegen seiner Vorliebe für die Musik oft Hohn und Spott ertragen musste und es auch wegen seiner Homosexualität und seiner pazifistischen Gesinnung nicht leicht hatte.

Abels Biografie macht auch mit vielen Seiten Brittens vertraut, die heute weniger im Bewusstsein sind, wie zum Beispiel seine Arbeiten für das Dokumentarfilm-Genre. Überaus lesenswert ist das Buch auch deshalb, weil Abels die Biografie geschickt mit dem politischen Weltgeschehen, an dem Britten intensiv Anteil nahm, in Beziehung setzt. (Boosey & Hawkes, 332 S., 34,95 Euro)

Diese Bücher empfiehlt Sylvia Binner

Amos Oz. Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

Wenn Urlaubslektüre in dem Land spielt, das man bereist, ist sie Inspiration, Unterhaltung, Verständnishilfe und Reiseführer zugleich. Wer sich dem in vielerlei Hinsicht anspruchsvollen Reiseland Israel zu nähern versucht, ist mit Amos Oz' bio- grafischem Roman bestens beraten. Er findet nicht nur die bewegende jüdische Familiengeschichte seiner Eltern Arie und Fania, die weit zurück in die europäische Vergangenheit reicht, sondern auch die Entstehungsgeschichte des 1948 gegründeten israelischen Staates.

Es geht um Träume, die angesichts eines banalen, durch Krieg und Not geprägten Alltags zerplatzen. „Ein erhellenderes, klügeres, vielschichtigeres Buch über Israel, über Familien und das, was Menschen zusammenhält und was sie trennt, kann man niemandem empfehlen“, urteilt Kritikerin Felicitas von Lovenberg. Schriftstellerin Batya Gur hat das Buch sogar zur „nationalen Biografie“ ausgerufen. Dem ist nichts hinzuzufügen. (Suhrkamp, 828 S., 12 Euro)

Peter Littger: The devil lies in the detail. Lustiges und Lehrreiches über unsere Lieblingsfremdsprache

Frei nach dem Motto „Die meistgesprochene Sprache der Welt ist schlechtes Englisch“ spießt Peter Littger humorvoll die Tücken der Fremdsprache auf, die gelegentlich selbst Könnern das Genick brechen. So erlegte selbst das Auswärtige Amt dereinst in einem System verdiente Sportler mit der Floskel „They fired on the athletes“. Dabei sollte eigentlich keinem ein Haar gekrümmt, sondern einzig und allein die Leistung bejubelt werden.

Was mit „They cheered on the athletes“ ganz wunderbar beschrieben ist, ohne das Glas zu heben. Anhand oftmals hochamüsanter Beispiele lernt der Leser ganz nebenbei die eine oder andere Feinheit kennen. Kann Scheinanglizismen wie „Beamer“ oder „zappen“ enttarnen, errötet mit der Touristin, die in Wales zwei „ice balls“ anstelle von „scoops of ice-cream“ verlangte. Während der Satz „I have good ground to say this“ vermutlich nie über unsere Lippen käme, obwohl er astreines Englisch ist. Eine gelungene Kombination aus Lernen und Lachen. (Kiepenheuer & Witsch, 320 S., 9,99 Euro)

Cixin Liu: Die drei Sonnen

Science-Fiction oder Parabel auf die chinesische Gegenwart? Das Buch von Cixin Liu ist beides, denn im Heimatland des Autors gelten phantastische Romane nicht umsonst als probates Mittel, der Zensur zu entgehen. Dabei spielt einer der drei Handlungsstränge in der 40 Jahre zurückliegenden Vergangenheit, im China der Kulturrevolution.

Im blutigen Chaos jener Zeit verliert die junge Physikerin Ye Wenjie ihren Vater und landet in der geheimen Radarstation „Rotes Ufer“, in der nach Signalen außerirdischen Lebens geforscht wird. Diese Radarstation entpuppt sich viele Jahre später als Ursache für eine rätselhafte Selbstmordserie unter Wissenschaftlern, der Wang Miao, ein Experte für Nanomaterialien, auf die Spur kommt. Und die führt zu den Trisolariern, deren Zivilisation regelmäßig von ihren feindlichen Sonnen in Schutt und Asche gelegt wird.

Was liegt für die Außer- irdischen also näher, als auf die Erde auszuwandern? Und ein Teil der Erdlinge, der mit ihnen in Kontakt steht, ist bereit, dafür die eigene Spezies zu verraten. Und das ist nur der Anfang. Denn der mit dem Hugo Award, dem wichtigsten Preis für Science-Fiction-Literatur, aus-gezeichnete Roman ist Teil eins einer Trilogie. (Heyne, 592 S., 14,99 Euro)

Diese Bücher empfiehlt Thomas Kliemann

Haruki Murakami: Birthday Girl

Wer Haruki Murakamis Welt und seinen Stil liebt, wird bei den knapp 60 sparsam bedruckten Textseiten und den bezaubernden roten Illustrationen von Kat Menschik schlicht dahinschmelzen. Eine junge Kellnerin, die in einem noblen italienischen Restaurant in Tokio arbeitet, hat auch an ihrem 20. Geburtstag Dienst. Der kauzige Patron lebt in Zimmer 604 oberhalb des Restaurants. Kein Mensch hat ihn bislang gesehen.

Zur festgesetzten Abendstunde stellt ihm gewöhnlich der Geschäftsführer das Essen vor die Tür und verschwindet. An ihrem 20. muss die junge Kellnerin für ihn einspringen. Gegen seine Gewohnheit öffnet der Patron und bittet sie zu einem Wein hinein. Wie im Märchen darf sie sich etwas wünschen. Was, erfahren wir nicht. Am Ende des Buchs erzählt immerhin Murakami selbst, wie er sich einmal einen Wunsch erfüllte. Ein traumhaftes Buch über Träume und das Leben damit. (Dumont, 75 S., 12,99 Euro)

Thomas Struth: Die große Monografie zur Ausstellung im Haus der Kunst

Es ist nicht unbedingt das richtige Buch für den Reisekoffer oder Rucksack. Aber wer Urlaub zu Hause macht, kann damit viel Spaß haben. Der opulente Bildband präsentiert in ausgezeichneter Qualität das Werk des Fotografen Thomas Struth (1954 am Niederrhein geboren), zeigt seine spannenden Bildrecherchen und exzellenten Foto-serien. Frühe New-York-Fotos sind dabei, Städtebilder in Schwarz-Weiß. Dann die umfangreiche Serie der Museumsbilder, mit denen Struth bekannt geworden ist.

Seine „Paradiese“ sind dichte Urwälder. Wer sie einmal überlebensgroß in einer Ausstellung gesehen hat, vergisst diese tiefgrünen, verschatteten Naturgewalten nicht. Das Münchner Haus der Kunst zeigt Struths Werk bis zum 17. September in einer großen Retrospektive. Der Band von Schirmer/Mosel begleitet die Schau des prominenten Schülers von Bernd und Hilla Becher. Man erfährt viel über Bildprozesse sowie über Menschen, die mit Struth zu tun hatten. Unbedingt lesenswert ist das Interview, das der Chef des Hauses der Kunst, Okwui Enwezor, mit Struth geführt hat. ( Schirmer/ Mosel, 320 S., 58 Euro )

Mary Blume: Balenciaga, unser aller Meister

Der Mythos, der sich um den spanischen Modeschöpfer Cristóbal Balenciaga (1895-1972) rankt, ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass er sich zeitlebens von Journalisten fernhielt. Allenfalls Irving Penn, Man Ray und Henri Cartier-Bresson durften den baskischen Fischersohn fotografieren, der in der Metropole der Haute Couture Karriere machte. Mary Blume, Kolumnistin der „International Harald Tribune“, lüftet nun den Schleier und präsentiert die Biografie eines ungemein kreativen Couturiers. Er war vor dem spanischen Bürgerkrieg nach Paris geflohen, um dort als Modemacher durchzu- starten. Christian Dior, der zehn Jahre jünger war, nannte ihn „unser aller Meister“. ( Schirmer/Mosel, 264 S., 22,80 Euro )

Martin Suter: Elefant

Nun noch etwas zum Schmökern. Es geht um einen rosa leuchtenden Elefanten, eine globalisierte und schranken-lose Genforschung und Menschen ohne Obdach. Die neigen nicht selten zum übermäßigen Alkohol- genuss. In Suters Buch sehen sie aber keine weißen Mäuse, sondern einen süßen, rosigen Zwergelefanten. Suter geht das Thema kritisch, jedoch im Tenor eines modernen Märchens an. Ein herrliches Buch. ( Diogenes, 352 S., 24 Euro )

Diese Bücher empfiehlt Dietmar Kanthak

Markus Günther: Weiß

„Aber nein, kein Traum, kein Wunder, keine Rettung. Es war wirklich geschehen. Die Zerstörung war nicht mehr aufzuhalten.“ Markus Günthers Roman „Weiß“ beginnt mit einer Krise. Für Hannah, die nachts nach Hause kommt, ist plötzlich nichts mehr, wie es vorher war. Sie sieht ihren Mann Jo mit anderen Augen. Ein Augenblick reicht, um ihr Gedanken an Verrat und Heimlichkeit, Abartigkeit und Abgrund aufzuzwingen. Der Journalist Markus Günther, der als Korrespondent für den General-Anzeiger aus Washington berichtet hat, erzählt in seinem ersten Roman eine Geschichte von Täuschung und Selbsttäuschung, von den Grenzen des Verstehens und einer Obsession: Weiß. (Dörlemann- Verlag, 191 S., 20 Euro)

Dorothy Parker: Denn mein Herz ist frisch gebrochen. Gedichte

Sie war eine der geistreichsten Frauen der amerikanischen Literatur. Ihr Genie als Journalistin, Kritikerin, Autorin von Bonmots, Gedichten und Kurzgeschichten paarte sich mit einer hoch entwickelten Begabung zum Unglücklichsein. Ihr Verleger George Oppenheimer nannte sie einmal „eine Masochistin, deren Leidenschaft fürs Unglücklichsein keine Grenzen kannte“. Diese Leidenschaft perfektionierte Parker (1893-1967) in diversen Beziehungen. Die Männer taten ihr am Ende ebenso wenig gut wie der viele Alkohol.

Erstmals liegen Dorothy Parkers Gedichte nun integral in der brillanten deutschen Übersetzung Ulrich Blumenbachs vor. Er trifft den Parker-Ton, ob sie mit dem Tod kokettiert („Ist wund mein Stolz und wild die Brust, / Dann habe ich zum Selbstmord Lust; / Ist hoch mein Haupt und kühl mein Blut, / Dann denk ich, “Tote haben's gut!„“) oder Gedanken über Liebe und Sex in Poesie übersetzt: „Verflucht sind von Geburt an die, / Die nichts wolln als Monogamie. / Sie suchen sie von Bett zu Bett – / Für die wär eher der Tod ganz nett.“ ( Dörlemann-Verlag, 400 S., 34 Euro )

Peter von Matt: Was ist ein Gedicht?

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki schätzte den Schweizer Peter von Matt über alle Maßen: ein begnadeter Literaturwissenschaftler und ein brillanter Stilist zugleich, das wusste Reich-Ranicki zu schätzen. In von Matts Einführung in die Lyrik kommt Dorothy Parker leider nicht vor, aber seine Einsichten, die von der Annahme „Niemand weiß, was ein Gedicht ist“ ausgehen, bieten großen Lesegenuss und Erkenntnisgewinn. ( Reclam, 230 S., 7 Euro )

Gustave Flaubert: Madame Bovary

Bleiben wir bei Reclam. Der Verlag feiert 150 Jahre Universal-Bibliothek. Übersetzt von Ilse Perker und Ernst Sander, ist eine Jubiläums-ausgabe von Gustave Flauberts Klassiker „Madame Bovary“ (1856) erschienen, die in jede noch so kleine Urlaubsreisetasche passt. Flauberts Kollege Émile Zola fand 1875 rühmende Worte für das Buch, das er als Musterbeispiel des modernen Romans betrachtete: „“Madame Bovary„ hatte eine Klarheit und eine Vollkommenheit, die dieses Werk zum Typ des Romans, zum definitiven Modell der Gattung werden ließ.“ Die Geschichte der Emma Bovary, die aus einer langweiligen Ehe fliehen will, hat auch heute nichts von ihrer den Leser fesselnden Kraft verloren. ( Reclam, 454 S., 12 Euro )

Lesley M. M. Blume: Und alle benehmen sich daneben. Wie Hemingway seine Legende erschuf

Das Leben des Autors Ernest Hemingway war so spannend wie seine Prosa. Lesley M. M. Blume wird ihrem Gegenstand in jeder Hinsicht gerecht. ( dtv, 448 S., 24 Euro )

Diese Bücher empfiehlt Sabrina Bauer

Christine Thürmer: Laufen. Essen. Schlafen

Den Jakobsweg nach Santiago de Compostela hat sich seit Hape Kerkelings Wandertagebuch „Ich bin dann mal weg“ so manch einer schon als Wunschziel für den eigenen Selbstfindungstrip vorgenommen. Während den „camino“ jährlich mehr als 250 000 Menschen entlang pilgern, bewältigen den Pacific Crest Trail von Mexiko nach Kanada gerade einmal 100 Menschen pro Jahr. Christine Thürmer ist eine von ihnen. Die deutsche Managerin hat nach ihrer Kündigung und dem Tod eines Freundes beschlossen, die unfreiwillige Auszeit zu nutzen, um einen der längsten Wanderwege der USA alleine zu bestreiten. 4277 Kilometer – ohne große Wandererfahrung oder sportliche Kondition.

In ihrer Reisebeschreibung schildert sie den steinigen Weg bis zur passionierten Langstreckenwanderin. Auf unterhaltsame Weise zeigt Thürmer, dass akribische Businessplanung und das Leben als Aussteiger sich nicht unbedingt ausschließen müssen. Mithilfe von Exceltabellen kalkuliert sie Essensrationen oder reduziert ihr Gepäck für die monatelangen Touren auf ein Minimum.

Auch wenn ihre Schreibe nicht mit Literaturgrößen vergleichbar ist, offenbart sie dem Leser ein Paralleluniversum aus Ultraleichtgepäck, Schutzhütten, Spitznamen und Menschen, die ihre vier Wände gegen ein Zelt und ein Kanu eingetauscht haben. Die Aufzeichnungen ergänzen vier Karten und Fotos der Autorin von den einzelnen Touren. Ihre Erlebnisse und Strecken hält Thürmer mittlerweile in einem englischsprachigen Internetblog fest. „Laufen. Essen. Schlafen“ ist eine Lesereise an die unwirklichsten Orte zwischen der amerikanischen Nord- und Südgrenze. (Piper Verlag, 286 S., 16,99 Euro)

Thomas Kemnitz, Michael Taeger und Robert Conrad: Stillgelegt. 100 Verlassene Orte in Deutschland und Europa

Der Bildband der drei Fotografen Thomas Kemnitz, Michael Taeger und Robert Conrad entführt den Leser an unwirkliche Orte, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Es sind sogenannte „Lost Places“ („Verlorene Orte“), die nicht nur auf Fotografen und Hobbyabenteurer eine große Faszination ausüben. Aufnahmen von stillgelegten Fabriken oder leeren Theatersälen, die sich die Natur Stück für Stück zurückerobert, regen zum Nachdenken und Spekulationen an. Wieso wurde der Ort verlassen? Wie sah er aus, als alles noch mit Leben gefüllt war?

Die Autoren stellen die Objekte nach den fünf Kategorien „Produzieren“, „Leben“, „Bilden“, „Transportieren“ und „Schützen“ vor und liefern am Ende jedes Kapitels Erklärungen zur Geschichte der Bauwerke. Manche Anwesen sehen aus, als wären die Besitzer nur kurz zur Türe hinausgegangen, anderen sieht man die Spuren der Zeit deutlich an. Zu den bekanntesten Abbildungen gehört die ukrainische Geisterstadt Prypjat mit ihrem Jahrmarkt, die seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl leersteht.

Die Fotografen halten die Schönheit des Verfalls nicht nur in imposanten, fast symmetrischen Bildern fest, sondern richten auch den Blick auf Details am Rande, die den Objekten erst ihren Charme und Charakter verleihen. So liegt ein Paar Damenschuhe in einem verstaubten Schuhkarton, auf dem noch Größenangaben und Herstellernamen zu lesen sind. „Stillgelegt“ ist ein Bildband zum Schmökern und Staunen. Auf diese schaurig-schöne Entdeckungsreise kann man sich bequem vom heimischen Sofa aus begeben.(DuMont, 224 S., 29,99 Euro)

Diese Bücher empfiehlt Wolfgang Pichler

Sophie Bonnet: Provenzalisches Feuer

Je weiter so manche Krimireihe fortschreitet, um so öfter bemerkt der genervte Leser schleichenden Qualitätsverlust. Nicht so bei Bonnet: Ihre Provence-Krimis um den Dorfpolizisten Pierre Durand aus Sainte-Valérie werden von Band zu Band besser. Diesmal wird einem Journalisten die Kehle durchgeschnitten – während des Konzerts einer provenzalischen Regio-Rockband. Durand findet eine Spur zu einem lange zurückliegenden zweiten Mordfall: Damals starb ein junger Schriftsteller an einer Flasche vergifteten Rotweins. Hatte er vor, das Dorf in einem Aussteiger- Bestseller zu verwursten und zum Touristenmagneten zu machen (für die genügsamen Einwohner eine Horrorvorstellung)?

Interessant, wie sich in der Schmökerliteratur das Gut-Böse-Schema verschiebt: Waren in früheren Jahren erst die gierigen Bänker und Konzernchefs für die jeweiligen Missetaten verantwortlich, später die korrupten Politiker, noch später die islamistischen Terroristen, so sind es heute die radikalen Nationalisten, die für ihre pseudo-romantischen Ideen von „völkischen Wurzeln“ und „kultureller Identität“ über Leichen gehen. Spannende Lektüre, die zudem die üblichen Stilelemente (aufrechte Dörfler, traumhafte Landschaft, leckere Kochrezepte) nur in Maßen einsetzt – das alles gehört natürlich dazu, erschlägt hier aber nicht die Krimihandlung wie in anderen Beispielen des Genres. (Blanvalet, 319 S., 14,99 Euro)

J.R.R. Tolkien: Beren und Lúthien

Der Mensch liest Mythen deshalb so gerne, weil sie das komplizierte Leben in einfachen, großen Bildern erfassen. Kaum einer wusste das besser als der Fantasy-Erzvater John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) – weil er es mehrfach an seinen eigenen Erlebnissen ausprobierte. 1908 verliebte sich der 16-Jährige in seine Mitbewohnerin Edith. Tolkiens Vormund verbot die Beziehung; erst acht Jahre später (für Teenager eine Ewigkeit) konnten die beiden heiraten. 1917 verarbeitete Tolkien das in einer der ersten großen Geschichten seines Mittelerde-Kosmos: Der Jäger Beren hält bei einem strengen Elbenfürsten um die Hand von dessen Tochter Lúthien an. Kein Pro-blem, sagt der König: Vorausgesetzt, Beren bringe ihm einen „Silmaril“, einen der drei sagenhaften Super-Edelsteine aus der Krone des Höllenherrschers Melkor. Also macht Beren sich auf den Weg in die Unterwelt – und Lúthien folgt ihm ...

Für Tolkien war dieses Geschehen der emotionale Kern seines Gesamtwerks – auf seinen Grabstein ließ er zu seinem und Ediths Namen auch „Beren“ und „Lúthien“ setzen. Für Tolkienisten ist die Sage nicht völlig neu: Tolkiens Sohn Christopher hat sie bereits 1977 und 1984 veröffentlicht, damals allerdings als Teil der (sehr anspruchsvollen) Gesamtmythologie Tolkiens. Der Vorteil der Neuausgabe ist, dass sie die lesenswerte Geschichte einzeln vorstellt, ihre Entstehung erläutert und um Ausschnitte weiterer Texte ergänzt, etwa des „Leithian“-Epos (hier erstmals ins Deutsche übersetzt, leider etwas holprig).

Wie eine historisch-kritische Ausgabe nachgelassener Schriften wirklich funktioniert, wird der inzwischen 93-jährige Christopher wohl nicht mehr lernen: Verschiedene Textvarianten einander gegenüberzustellen (von denen es bei Tolkien immer sehr viele gibt), braucht Übersichtlichkeit – und warum die eine Variante in Druck erscheint und die andere nicht, bekämen wir gerne erklärt. Macht aber nichts. Unverzichtbar für Fantasyfans. (Klett-Cotta, 304 S., 22 Euro)

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