Eine Stadt im Porträt: Siegen Auf zu neuen Ufern

SIEGEN · Siegen ist einen Ausflug wert: Die Stadt in Südwestfalen pulsiert. Die Wirtschaft floriert. Die Uni- und Kunstszene leben auf. Jetzt wurde auch das Stadtbild durch eine neue Ufergestaltung attraktiver gemacht.

 Bronzeskulptur eines Bergmanns auf der zentralen Siegbrücke

Bronzeskulptur eines Bergmanns auf der zentralen Siegbrücke

Foto: Martin Wein

Sommerlicht, weiße Betonstufen, junge Grüppchen picknickend. Man braucht eine Sonnenbrille, so grell ist die Reflexion. Unten plätschert der Fluss, als wäre nie etwas gewesen. Oben an der autofreien Straße rascheln die Silberweiden im lauen Lüftchen. Ein älteres Ehepaar steuert eine Parkbank an. Vom Café an der Brücke schallt heiteres Stimmengewirr herüber. Siegen erlebt 2016 sein Sommermärchen.

Ja, Sie lesen richtig, Siegen! Mancher in der Rheinschiene genordete Rheinländer mag sich wundern, wenn er den Namen der Stadt überhaupt auf der Landkarte entdeckt. Und wer sie tatsächlich kennt, der verbindet damit meist mehr gemischte Gefühle. David Werker etwa, der als Germanistik-Student kam und als Comedian ging, weil es so vieles gab, über das man sich hier aufregen konnte. Oder Bernd Becher, 1931 in der Stadt mit den hellen Fachwerkfassaden und schwarzen Schieferdächern geboren, der ein Meister der Schwarz-Weiß-Fotografie wurde.

In Siegens Garagen gebe es eine auffällig hohe Sportwagendichte, verrät ein Autohändler: „In der Woche wird gearbeitet – und samstags rasen sie damit nach Köln.“ Siegen sei also eine Stadt zum Abwinken, glauben viele, eine die schlimmer sei als Verlieren, von calvinistischem Geist und ohne rheinische Lebensfreude, wo die Menschen maulfaul seien bis zur Unverständlichkeit. Garantiert kein Ausflugsziel also. Nicht einmal das Wetter bietet einen Anreiz.

Vielleicht aber ist all das nur Understatement, das Bemühen, unter dem Radar zu segeln. Tatsächlich nämlich geht es Siegen ziemlich gut: Das durchschnittliche Industrieeinkommen im Kreis liegt mit 3384 Euro fast zehn Prozent über und die Arbeitslosenquote mit 4,2 ein halbes Prozent unter dem Bundesschnitt. Viel „alte“ Industrie ist hier ansässig, macht in Stahlverarbeitung und Zulieferung. Im Kreis zahlen die Bürger im Schnitt 757 Euro Gemeindesteuern. In ganz Deutschland sind es im Durchschnitt nur 494 Euro.

Es wird Zeit für einen Ortsbesuch. Rumpelnd kurvt sich der Triebwagen von Siegburg seinen Weg durchs Tal, teils eingleisig, eine späte Kriegsfolge. Immer am Fluss geht es entlang, der viel zu klein ist für den Schiffsverkehr und deshalb in Ruhe gelassen wurde. In der gleichen Zeit käme man bis auf die Kö in Düsseldorf oder bis zur Seilbahn über den Rhein in Koblenz, die Bonn auch so gerne hätte. Tiefe Täler, tief hängende Wolken, Industrieruinen und eine aufgestelzte Autobahn wie ein Lindwurm, die im engen Tal lange Schatten wirft. Die Zugfahrt wirkt wie eine Expedition in den Osten. Dabei geht es zugegeben nicht ganz bis zum Ural, aber immerhin doch 67 Kilometer mitten hinein in die Wetterküche des Westerwaldes und den vergessenen hintersten Winkel Westfalens.

Der Bahnhof ist derzeit Baustelle. Ab 2019 sollen hier wieder Fernzüge halten, hat die Bahn versprochen. Einiges hat sich schon verändert. Siegen hat die schwere Betonplatte abgetragen, 6500 Tonnen Schutt, die seit 40 Jahren mitten im Zentrum als schnöder Parkplatz die Sieg abdeckte wie ein verstrahltes Atomkraftwerk. Ein neues Ufer ist gerade entstanden, wie Bonn seit Jahrzehnten gerne am Rhein eines hätte – 180 Meter lang, mit neuer Fußgängerbrücke. Im Unteren Schloss ist jüngst die Universität eingezogen, an der inzwischen 20 000 junge Leute längst nicht mehr nur Hochbau und Ingenieurswissenschaften studieren. Und oben in der Altstadt auf dem Siegberg am Marktplatz mit der Nikolaikirche und der markanten goldenen Krone auf der Turmspitze übt Bürgermeister Steffen Mues im Rathaus neues Selbstbewusstsein: „Als größte Stadt in Südwestfalen sollte Siegen ein starkes, urbanes Zentrum mit Strahlkraft für die Region sein“und hat der Stadt ein neues Logo verordnet: „Siegen pulsiert.“ Für Neugierige hat die Stadt tatsächlich einiges zu bieten.

Im Oberen Schloss, wo einst die Nassauer einen Zwergstaat regierten, hängen neun Bilder von Peter Paul Rubens, ein Sohn der Stadt. Sein Vater hatte nach einer angeblichen Affäre ein paar Jahre hier in Hausarrest verbracht. Im Museum für Gegenwartskunst pflegt man ausgehend vom Werk Bernd und Hilla Bechers die künstlerische Avantgarde. Und außerdem verspricht das Café im Dunkeln ganz neue Erfahrungen jenseits der sichtbaren Welt.

Auch der Bergbau, der das Siegerland einst zum ersten Industrierevier Deutschlands pushte, lässt sich nacherleben. Gleich auf der Siegbrücke stehen mit dem Bergmann Henner und dem Hüttenwerker Frieder in Bronze gegossen die Symbole der Region. Sonntags kann man im Stadtteil Eiserfeld 700 Meter tief in den alten Reinhold-Forster-Erbstollen eindringen. Und vom Dach des alten Förderturms auf dem fast 500 Meter hohen Pfannenberg schweift der Blick in den Wald. Siegen ist nämlich auch Deutschlands Großstadt mit dem höchsten Grünanteil, wie eine Analyse Berliner Medien jüngst einräumen musste.

Die Hälfte des Stadtgebiets auf acht Hügeln des Rothaargebirges ist von Wald bedeckt. Für Spaziergänger, Jogger und Radfahrer bieten sich viele Möglichkeiten. Auf dem Fernwanderweg E1 kann man von Siegen aus direkt das Nordkap oder Sizilien ansteuern – oder etwas naheliegender die Lahnquelle oder die Freusburg. Nur wetterfühlig darf man nicht sein, denn das mit dem miesen Wetter ist ungelogen ein Problem. In Bonn ist es im Schnitt 1,4 Grad wärmer im Jahr und es fallen 80 Millimeter weniger Regen.

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