Post vom Wähler Acht Bitten an unsere Parteien

Bonn · In den letzten Monaten haben wir schmerzvoll lernen müssen, dass Politik auch ziemlichen Krampf bedeuten kann. Ob und wie die nächste Koalition je vernünftig arbeiten wird, wissen wir nicht – und haben gerade deshalb ein paar Wünsche für die Zukunft.

Mitgliederbefragungen. Junge Wilde. Rebellische Basis hier wie dort. Es ist sehr langwierig (für manchen auch ermüdend), wie viele Instanzen die Parteien derzeit heranziehen, um vor sich selbst und der Welt zu entscheiden, was sie eigentlich sind und wollen. Uns verwirrte Wähler fragt keiner. Dann reden wir eben selbst. Hier ein paar Bitten an alle Parteien für die Zukunft, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

1. Sagt bitte vorher, ob ihr auch wirklich regieren wollt. Das Kreuz auf dem Wahlzettel heißt übersetzt: „Ich wünsche mir, dass diese Partei Deutschland regiert.“ Wenn hinterher rauskommt, dass die fragliche Partei das überraschenderweise gar nicht selber will, kommt man sich als Wähler veralbert vor. Wenn eine Partei sich als Fundamentalopposition definieren möchte, als Stachel im Fleische der anderen, ist das ihr gutes Recht. Nur soll sie dem Wähler dann bitte vorher (!) sagen, worauf er sich einlässt.

2. Und ob ihr koalieren wollt, sagt bitte auch.Es ist etwas aus dem Blick geraten, dass „Koalition“ heißt: Kompromiss. Wer durchregieren will, braucht die absolute Mehrheit. Wer keine bekommt, braucht einen Partner. Wer dem dann 100 Prozent abtrotzen will, wird null Prozent bekommen. Ohne diese Erkenntnis funktioniert keine Ehe, keine Familie, keine Freundschaft, erst recht keine Demokratie.

Wenn Herrn L. oder Herrn Kü. der Gedanke die Zehennägel aufrollt, sich mit Frau M. einigen zu müssen (oder Herrn Sp. der Gedanke, es mit Frau N. zu tun), dann klärt das in eurem Verein bitte vorher und sagt Bescheid. Dann wissen wir, was wir mit unserem Kreuz auf dem Zettel bekommen und was nicht. Zum Beispiel kein Parallelparlament mit Namen „Parteitag“ oder „Mitgliederentscheid“. Vor der Wahl könnt ihr gerne befragen, wen immer ihr wollt. Am Wahltag (oder gar später) nicht mehr. Da entscheiden wir Wähler. Alle 62 Millionen. Die sind bedeutender als alle Parteitage.

3. Hört bitte auf mit den Etiketten „rechts“ und „links“.Das Spektrum der Meinungen und Lebensstile ist nicht mehr so simpel wie in den 50er, 70er oder 90er Jahren. Heute gibt es konservative Konzernkritiker. Sozialstaatsbejahende Islamskeptiker. Rechtsextreme Homosexuelle. Kiffende Katholiken. Ausländerfeindliche Ausländer. Frauenfeind-liche Frauen. Das in zwei Schubladen zu sortieren, wird kompliziert. Man erinnere sich: Es gab eine Zeit (so ungefähr die Spätphase der Ära Kohl), in der viele Leute das ewige Gezanke zwischen „rechts“ und „links“ leid waren, den Streit um des Streits willen, die verhärteten Positionen (genau das also, was sich heute angeblich so viele Leute als „lebendige Diskussion“ wünschen).

So mancher sehnte sich nach einem neuen Pragmatismus, der alte Schablonen zugunsten einer beidseitigen Vernunft ablege. Gerhard Schröder wurde gewählt, weil er genau diesen Eindruck zu erwecken vermochte („Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser“). Angela Merkel wurde gewählt, weil sie diesen Eindruck fortsetzte.

Heute heißt es (mitunter aus der gleichen Richtung wie der Pragmatismus-Wunsch von einst), die Kanzlerin habe verwerflicherweise eine „linke Politik unter rechtem Etikett“ betrieben. Aber „links“ und „rechts“ – was heißt das noch? Inzwischen finden sich auf beiden Seiten fast in gleichem Ausmaß Leute, die für oder gegen die Braunkohle sind, die Cannabisfreigabe, den Atomausstieg, die Homo-Ehe, offene oder geschlossene Grenzen. (Und auch beim Computer herrscht Einheitsmeinung, siehe Punkt 7.)

Wenn „links“ einen „Fortschritt für die Menschen“ bedeutet – dann wollen manche „Rechten“ dasselbe. Der Historiker Andreas Rödder sagte in der Süddeutschen Zeitung: „Der Konservative weiß, dass Veränderungen nicht zu verhindern sind, und deswegen will er diesen Wandel [...] menschenverträglich gestalten.“ Liebe Parteien: Wenn ihr uns sagen wollt, was ihr seid, dann benutzt mal neue Vokabeln.

4. Liebe CDU: Bleib wie du bist.Diese Partei, bei der angeblich nicht mehr richtig klar ist, auf welcher Seite sie eigentlich steht, ist auf ihrem Mittelweg in den letzten drei Legislaturperioden gut gefahren. Man erinnere sich erneut: Es gab eine Zeit, in der sie selbst es als fundamentales Problem ansah, bei Großstadtbewohnern unter 35 Jahren kaum noch Stimmen zu erzielen. Jetzt werfen Kritiker ihr genau das vor: Sie sei „nach links gerückt“ und habe ihr „konservatives Profil verwischt“ – obwohl das jetzt „verwischte“ Profil immer noch für genau so viele Stimmen gut ist, wie die zwei nächstplatzierten Parteien zusammen erzielen.

Wenn die CDU versuchen sollte, im Revier der lärmenden Weidels und Gaulands zu wildern, gewönne sie auf dieser Seite vielleicht (!) neue Wähler. Zum Ausgleich wird sie welche auf der anderen Seite verlieren – vielleicht genau die Leute, die sie in den letzten Jahrzehnten dazubekommen hat. Braucht es so ein Nullsummenspiel?

5. Liebe SPD: Klär endlich, was du sein willst. Im Prinzip deckt sich das mit unserer Bitte Nummer 3. „Links“ ist ein Plastikbegriff geworden – da ist die Zankerei der SPD über seinen Inhalt kein Wunder. Dabei gibt es so viele sinnvolle soziale Ziele, die immer noch nicht verwirklicht sind: „Wirtschaftliche Überlegenheit oder Schwäche dürfen keine Folgen für die Rechtsprechung haben. – Die Wirtschaft [muss] den Strukturveränderungen angepaßt werden. – Bändigung der Macht der Großwirtschaft. – Wettbewerb durch öffentliche Unternehmen zur Verhütung privater Marktbeherrschung. – Die Lage der Landbevölkerung ist zu verbessern. – Die Arbeits- und Sozialgesetzgebung ist übersichtlich zu ordnen. – Eine religiöse Verkündigung darf nicht zu antidemokratischen Zwecken mißbraucht werden. – Die [Politik] muß den Mangel an Wohnraum beschleunigt beheben.“ Wo steht das alles? Im Godesberger Programm.

6. Liebe Linken, liebe Rechten: Wenn 4 und 5 nicht klappen, sortiert euch neu.In diesem Land gibt es drei Parteien, die irgendwie „links“ sind (was auch immer das heißen soll; siehe Nummer 3). Eigentlich sind das zwei zu viel. Ehr-licher wäre die von Sahra Wagenknecht vorgeschlagene „linke Sammlungs-bewegung“. Jeder, dem die SPD oder die Grünen „zu wenig links“ erscheinen, könnte ihr beitreten, dann wären die Fronten geklärt.

Dasselbe gilt auf der anderen Seite. Es braucht eine bundesweite Partei, in der sich das „konservative Profil“ (was immer das sein mag) sammeln kann, ohne zu den Faschisten überlaufen zu müssen. Vielleicht sind es die Leute, die durchaus nicht vom Vierten Reich träumen, denen es aber dennoch zu viel wird mit der Kunstzensur, der Laxheit gegen den Islamismus und der Zerfaserung der Gesellschaft zu immer noch mehr überempfindlichen Minderheiten (in England nennt man das Phänomen „Generation Snowflake“ – sinngemäß etwa „Generation Ich-bin-aus-Zucker“ oder „Rühr-mich-nicht-an“). Man muss diese Abneigung nicht teilen. Aber man darf auch nicht behaupten, dass ein Idiot sei, wer sie fühlt.

Horst Seehofer hätte so eine Partei auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise schaffen können, und die AfD wäre uns allen erspart geblieben. Er hat's nicht getan, weil es natürlich die Republik umgekrempelt hätte wie die Krise selbst. Jetzt scheint es die FDP zu versuchen – so konstatierte es zumindest der Historiker Herfried Münkler vor kurzem im Berliner Tagesspiegel. „Lindner hat sich entschlossen, die FDP [...] rechts der CDU zu positionieren [...] Eine solche Positionierung wäre innerhalb der Regierung nicht möglich gewesen. Das konnte er natürlich so nicht sagen, aber seine Erklärung für das Jamaika-Aus war so schwach, dass alle anfingen, über seine wahren Motive zu rätseln.“

Vier ist praktischer, ehrlicher und koalitionabler als sieben. Linke Mitte, rechte Mitte, ganz (demokratisch) links, ganz (demokratisch) rechts. Fertig. Wenn die Parteien es nicht zumindest versuchen, sich der veränderten Gesellschaft irgendwie neu anzupassen, dann kann es passieren, dass sie wie in Frankreich unter diesem Druck zerbrechen.

7. Wann kommt endlich die Digitalisierungs-Eindämmungspartei?So viele Tätigkeiten gebe es, die ein Computer niemals werde erlernen können, hieß es. Texte schreiben. Schach- und Go-Großmeister besiegen. Fremdsprachen übersetzen. Den passenden Partner ausfindig machen. Alte und Kranke pflegen. Computer programmieren. Jetzt (oder sehr bald) können Computer das alles auch. Jeder zweite (!) Job soll in den nächsten 20 Jahren dadurch verlorengehen, sagt die Uni Oxford.

Das alles noch „fördern“ zu wollen, ist ähnlich, wie wenn einer in den 70er Jahren immer noch mehr Hochöfen, Autobahnen, Chemiewerke, Atomraketenabschussbasen und Atommeiler hätte errichten wollen. Tatsächlich gab es ja auch Leute, die genau das wollten. Und dann trat plötzlich eine Partei auf, die es eben nicht mehr wollte, und füllte die Lücke. Jetzt regiert sie ein ganzes Bundesland.

8. Behauptet nicht, das alles sei zu kompliziert. Solche Probleme zu beheben, ist euer Job. Laut Grundgesetz wirkt ihr nämlich an der politischen Willensbildung des Volkes mit. Das Dauergequassel in den Talkshows reicht nicht aus.

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