Neuerscheinung Wenn alles möglich ist, ist nichts wirklich

Bonn · John von Düffels neuer Roman „Klassenbuch“ über eine Jugend im digitalen Delirium. Der Autor komponiert seinen Roman aus den Perspektiven von zehn Schülern, die er in zwei Runden zu Wort kommen lässt

 John von Düffel im März 2013 in Köln.

John von Düffel im März 2013 in Köln.

Foto: picture alliance / dpa

Das Leben von Henk möchte man nicht führen – gestresst durch seinen Mitschüler Lenny. Der kann ihn überall orten, setzt unter Henks Namen Fake-Kommentare, spamverdächtige Spendenaufrufe und Pornos ins Netz, hält ihn an der kurzen digitalen Leine. Dann ist noch die Sprachsoftware „Siri“, eine moderne Form von Stimmen im Kopf: Henk läuft wie ferngesteuert durch die Cyber- und reale Welt – und in die Arme seiner verehrten Li, die bei der Aufnahmeprüfung zur Musikhochschule gerade ihre Arbeit über ein unvollendetes Opernfragment Gaetano Donizettis, „Le due figlie del siciliano“, mit durchwachsenem Erfolg verteidigt hat.

So weit das Spektrum von John von Düffels neuem Roman „Klassenbuch“, der an diesem Dienstag erscheint. Der 50-jährige Schriftsteller und Dramaturg – 1998 bis 2000 war er am Schauspiel Bonn, gegenwärtig arbeitet er am Deutschen Theater Berlin – taucht in die Welt der 17-, 18-Jährigen ein, in das schillernde Biotop der Abschlussklasse eines Humboldt-Gymnasiums. Ein Leben am Limit, unter hohem sozialen Druck, mit Seilschaften und Hassfiguren.

Da wird gemobbt – gerne im Netz –, verleugnet, die Gerüchteküche brodelt, Koalitionen wechseln, die Härte der Auseinandersetzung macht das Leben Einzelner zur Hölle. Der Klassenverband als Schlangengrube – besser: als digitaler Marktplatz der Eitelkeiten, auf dem in der Mitte der mediale Pranger steht. Von Düffel komponiert seinen Roman aus den Perspektiven von zehn Schülern, die er in zwei Runden zu Wort kommen lässt. Jeden mit eigenem Slang und Texttypus: Es gibt den E-Mail-Bericht und den Blog, das flüchtige Gedankenprotokoll und die pseudowissenschaftliche Abhandlung, sogar eine Katze berichtet unter dem Netznamen „Marilyn“ aus ihrem ziemlich abgefahrenen Alltag.

Von Düffel macht das virtuos, schafft durch die zehn Perspektiven und durch die Vernetzung Einzelner untereinander das dichte, eindringliche Bild einer zwar auf allen erdenklichen Kanälen sehr kommunikativen, bisweilen jedoch hochneurotischen und de- struktiven Gemeinschaft. Anders als bei der Kollegin Juli Zeh, die vor einem Jahr in dem grandiosen Werk „Unterleuten“ ebenfalls mit einzelnen biografischen Porträts arbeitete, diese jedoch zu einer sehr spannenden Geschichte zusammenführte, belässt es von Düffel beim Nebeneinander seiner Figuren, ohne ein narratives Ziel seines „Romans“ anzustreben oder zu formulieren.

Was bleibt, sind anderthalb Dutzend mehr oder weniger fesselnde Miniaturen, Kurzgeschichten, die einander fortführen oder auch nicht. Echte Perlen sind darunter, etwa Emily Henriette Dreyers E-Mail an die für die Schule zuständige Catering-Firma „Top Fit“. „Merken Sie, wie die Masse in Ihrem Mund immer mehr wird statt weniger und sich ausdehnt bis in die Backentaschen?“, schreibt sie. Wenige Seiten später wird das desolate Leben des Caterers zum Thema. Und in der zweiten Runde von von Düffels Porträts schreibt Emily nach einem Nervenzusammenbruch aus der Klinik, wo sie, traumatisiert von einem ins Netz gestellten Sex-Video mit ihr als Protagonistin, behandelt wird. Und sich gegen das Gerücht ihrer Mitschüler wehren muss, die Magersucht habe sie in die Klinik getrieben.

„Ich habe keinen Sex, ich habe eine Mission“, meint dagegen eher verbissen Li Park, während sich Henk im digitalen Delirium verliert: „Wenn alles möglich ist, ist nichts wirklich.“ Er oszilliert hilflos zwischen den Sphären. Schulfreundin Beatrice Engelke hingegen hat sich für eine ohne Schule entschieden, ist ihr einfach ferngeblieben – ohne dass die Eltern Notiz davon nehmen. Wir erleben sie am Boden, ihren Wodka-Absturz: „Alle haben ihre Handys gezückt, schwenken die Kameralichter auf mich. Schön sieht das aus, dieses Lichtermeer, wenn es nicht so ein beschissenes Publikum wäre, das jedes Mal kichert, wenn mein Schluckauf bellt.“

Eine zum Verzweifeln triste, enge Enklave in einer Welt der überbordenden Möglichkeiten. Brillant erzählt von John von Düffel.

John von Düffel: Klassenbuch. Dumont, 316 S., 17,99 Euro

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