Buchbesprechung Streitgespräch zwischen Reich-Ranicki und Kaiser

Bonn · Erstmals als Buch: Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki 1995 im Streitgespräch. "Prima la musica, dopo le parole" ist ein großes Lesevergnügen.

 Professoraler Auftritt: Joachim Kaiser (1928-2017).

Professoraler Auftritt: Joachim Kaiser (1928-2017).

Foto: picture alliance / dpa

Was ist bei einer Oper wichtiger: Text oder Musik? Dichtung oder Partitur? Für den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war die Sache klar. Libretti, stellte er 1995 fest, seien „zu 99 Prozent miserable Literatur und überhaupt keine Literatur, sie haben nichts mit Literatur zu tun“.

„Warum“, fragte er, „müssen wir verblödete – ich bin nicht bereit, mich da milder auszudrücken – verblödete Libretti ernst nehmen? Sachen, zu denen Komponisten wie Verdi komponiert haben, sind doch der letzte Schwachsinn! Ich meine, bitte entschuldigen Sie, Der Troubadour ist doch eine schreckliche Geschichte, ganz schlimm.“

Wie immer, wenn ihn etwas im Innersten bewegte, schaltete Reich-Ranicki in den Erregungsmodus. Anlass war 1995 eine Diskussion bei den Richard Strauss Tagen in Garmisch-Partenkirchen, die vom Fernsehen aufgezeichnet wurde. Reich-Ranicki und sein Münchner Kollege Joachim Kaiser diskutierten mit dem Moderator August Everding eine jahrhundertealte Frage: „Prima la musica, e poi le parole: Zuerst die Musik, dann die Worte?“ Kein Thema, in das sich hochkultivierte und schwergebildete Diskutanten regelrecht verbeißen könnten, möchte man meinen. Und doch entwickelte sich in Garmisch-Partenkirchen eine spannende, stellenweise explosive und ungemein unterhaltsame Diskussion. Sie ist im Fernsehen gesendet worden und nun zwischen zwei Buchdeckeln dokumentiert: „Prima la musica, dopo le parole. Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki im Streitgespräch, moderiert von August Everding“.

Martina Mattick-Stiller erinnert sich. „Ich hatte das Glück als junge Fernsehredakteurin, diese einmalige Star-Formation, das Trio August Everding, Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser im Rahmen der ,Richard Strauss Tage' 1995 in Garmisch-Partenkirchen zu erleben und zu ,bändigen'. Drei Alpha-Tiere im ZDF/3sat mit einem jeweils sehr hohen Grad an sympathischen Eitelkeiten“, schreibt die TV-Kulturredakteurin in ihrem Nachwort.

Reich-Ranicki verkörperte den Provokateur, Joachim Kaiser den professoral auftretenden Schöngeist und August Everding den charmanten und gewitzten Vermittler zwischen den befreundeten, aber in der Sache unnachgiebigen Diskutanten. Die Debatte lebt vom gesprochenen Wort, vom leidenschaftlichen Ton hier (Reich-Ranicki) und dem dozierenden Duktus dort (Kaiser): ein tolles TV-Dramolett. Die großen Köpfe streiten über Börne, Strauss und Hofmannsthal, die Funktion von Kunst, die Unzulänglichkeit des Sprechtheaters und vieles mehr.

Der Kaiser-Sound artikuliert sich in Passagen wie: „Auch wenn der Text am Beginn steht, so sind wir ja doch der Ansicht, dass die Musik und die Emotion, die sie vermittelt, wichtiger ist als jener. Und da wir darüber hinaus der Ansicht sind, dass der Komponist im Allgemeinen dem Textdichter überlegen ist, dass er ein Künstler ist, der wichtiger ist als der Textdichter – es gibt Ausnahmen, aber daraus ergibt sich doch eigentlich, dass der Furtwängler oder der Karajan oder der Bernstein oder der Solti für die ganze Aufführung etwas mehr verantwortlich sind als der Regisseur.“

Den O-Ton Reich-Ranicki verdeutlicht folgende Dialogstelle.

Everding: Könnten wir uns einigen, dass ...

Reich-Ranicki: Nein.

Das Buch ist ein großes Lesevergnügen. Da verzeiht der Leser gewiss auch kleine Fehlleistungen im Personenverzeichnis: Berthold (statt Bertolt) Brecht; Leonhard (statt Leonard) Bernstein; Hugo von Hoffmannthal (statt Hofmannsthal); Georg Bernhard (statt George Bernard) Shaw und Günther (statt Günter) Grass.

Prima la musica, dopo le parole. Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki im Streitgespräch, moderiert von August Everding. Westend, 165 S., 18 Euro.

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