Kolumne zur Digitalisierung Der Zug der Lemminge

Bonn · Unser Autor hat harsche Kritik einstecken müssen, als er sich eine Partei wünschte, die die Digitalisierung bekämpft. Hier unterstreicht er nun seine Position.

 Zeichen der Digitalisierung: Facebook-Werbung in Köln.

Zeichen der Digitalisierung: Facebook-Werbung in Köln.

Foto: picture alliance / Rolf Vennenbe

Potzblitz und heiliger Zuckerberg! Ich habe harsche Kritik erweckt, als ich mir vor vier Wochen wünschte, eine neu zu gründende Partei möge die Digitalisierung bekämpfen. Kollegen und Leser nannten mich einen romantischen Naivling und ein vaterlandsfeindliches Standortrisiko. „Wir“ müssten nämlich auf-passen, nicht „abgehängt“ zu werden. „Wir“ dürften uns „der Zukunft“ nicht verweigern. Sie sei „unaufhaltsam“.

Mich hat das verwundert. Schließlich sagt man heute doch dauernd, dass wir Journalisten nicht bloß die Phrasen der Mächtigen nachbeten sollen, oder? Und schließlich habe ich die Prognosen nicht erfunden, die uns das vollcomputerisierte Dasein ausmalen. Gläserne Individuen. Gemordeter Einzelhandel. Verödete Innenstädte. Verrohte Kommunikation. Aussterben aller Jobs (außer dem des Paketboten). Das muss nicht passieren. Kann aber. Dann drohen soziale Verwerfungen, die jede Flüchtlingskrise als laues Lüftchen erscheinen ließen. All das verhindert sehen zu wollen, ist ein Standortrisiko?

Dass „alle anderen dabei mitmachen“, kann kein Argument sein (jedenfalls, wenn man dem Grundschulalter entwachsen ist). Dass von irgendwem damit Massen von Geld verdient werden, auch nicht (jemand anders wird dieses Geld ja zum Ausgleich verlieren). Der letzte angeblich „unaufhaltsame“ Popanz war die Globalisierung. Die sei zudem „nützlich für alle“, hieß es. Mittlerweile fragen sich allerlei Leute, ob das so stimmt – da liegt die Frage nahe, ob es nicht auch bei der Digitalisierung Blabla ist. Passenden Willen und kluge Ideen vorausgesetzt, ist nichts „unaufhaltsam“. Die Verzifferung des Lebens ist kein Gottesgesetz. Es ist der Mensch, der sie betreibt. Er kann es auch lassen.

Ein „Algorithmus“ genanntes Blechhirn

Nicht jede „Zukunft“ ist eine gute. Wenn sich ein Mensch von seinem Kühlschrank das Nach-der-Milch-Schauen abnehmen lässt, lässt ihn das einrosten; sein Problem. Nicht ganz so harmlos ist, wenn der Kühlschrank die Milch nur noch im Amazon-eigenen Supermarkt bestellt. Noch weniger harmlos ist, wenn ich keinen Kredit bekomme, weil ich in einem preiswerteren Viertel wohne und das „Algorithmus“ genannte Blechhirn-Vorurteil deshalb glaubt, ich könne keine Raten bezahlen.

Gar nicht mehr harmlos ist, wenn ich im Knast lande, weil ein anderes Blechhirn behauptet, alle Leute mit meinem Nachnamen neigten dem Terrorismus zu. Es läuft etwas schief, wenn ein Haushaltsgerät mich herumkommandiert, zulabert, ausspioniert, anschwärzt, seinem Arbeitgeber verkauft. Sein Arbeitgeber: Das sollte ich sein, nicht die Firma Facemazoogle.

Ja, Computer sind nützlich. Das sind Autos auch. Für sie gibt es mit gutem Grund Verkehrsregeln, Führerscheine, Abgasstandards und Tüv (und den Grundsatz, dass sie auf die Straße gehören, sonst nirgendwohin). Für die Verzifferung gibt es das alles kaum. In einem Staat, der diesen Namen verdient, muss es her. Denn er ist kein Erfüllungsgehilfe des Silicon Valley.

Wer ständig nur Gas gibt, landet am Abgrund

Wer ausschließlich danach strebt, „nicht abgehängt“ zu werden, ist ein Eisenbahnwaggon. Wer ausschließlich tut, was „alle anderen“ tun, ist ein Lemming. Wer auf egal welchem Weg ständig nur Gas gibt, landet nicht am Ziel, sondern im Abgrund. Wer schon die Kleinsten zwingen will, Computer zu „bedienen“ (!), der fördert ihre Zukunft nicht, sondern verschüttet sie.

Wer kein Eisenbahnwaggon ist, der muss selbst entscheiden dürfen, ob er aus dem Zug steigen will. Wer's tut, kann alleine loslaufen. Dann ist er Pionier, neugierig, mutig. Dann kann er zum „Anführer“ werden. Es kann zwar sein, dass ein einzelner Mensch diesen Zug der Lemminge nicht umsteuern kann. Aber eine freie Entscheidung kann jeder denkende Mensch sich nehmen. Nämlich ob er von dem Kakao, durch den man ihn zieht, auch noch trinkt.

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