Der Mann vom Mars Jimi Hendrix wäre in diesen Tagen 75 geworden

Vor 75 Jahren wurde Jimi Hendrix geboren. Dem Autodidakten, der nie gelernt hatte, Noten zu lesen, aber Töne als Farben sehen konnte, blieben nur vier Jahre von der ersten Platte bis zu seinem Tod.

Hinter der Bühne, kurz vor dem Auftritt, lehnt dieser junge Musiker mit geschlossenen Augen an einem Feuerlöscher und scheint einer unendlich fernen Stimme zu lauschen. Ein Reporter im Regenmantel, Notizblock in der Hand, pirscht sich heran. „Guten Abend, ich bin von der New York Times.“ Der junge Mann öffnet die Augen nur halb und lächelt sanft. „Nett, Sie kennenzulernen. Ich bin vom Mars.“

Auch wenn er Gitarre spielte wie vom anderen Stern und in kürzester Zeit die Rockmusik revolutionierte, stammte der junge Mann natürlich nicht vom Mars, sondern aus einer ziemlich üblen Ecke von Seattle. Dort kam er am 27. November 1942 zur Welt. Afroamerikaner mit reichlich indianischem Blut. Wie so viele, die den Blues beflügelten.

Der 22-jährige Vater war mit der US-Army unterwegs, im Krieg gegen Japan; die 17-jährige Mutter ließ das Baby auf den Familiennamen Hendrix und den Vornamen John Allen taufen und gab es bei Verwandten ab, weil sie Wert auf ihre Ruhe und eine sturmfreie Bude legte.

Der Junge ist vier, als der Vater 1946 aus dem Militärdienst zurückkehrt – und den Namen seines Erstgeborenen bei den Behörden in James Marshall Hendrix ändern lässt, warum auch immer. So wird aus dem vierjährigen Johnny ein „Jimi“, die Koseform von James.

Jimis Bruder landet im Waisenhaus

Zwei Jahre später bezweifelt Jimis Vater die Vaterschaft des drittgeborenen Joey. In ihrer Hassliebe prügeln und betrinken sich die Eltern Abend für Abend, 1950 lassen sie sich scheiden. Der verschlossene Jimi wächst beim Vater auf, Joey wird zur Adoption freigegeben, der zweitgeborene Leon landet im Waisenhaus, die Mutter stirbt 1958.

Beim Aufräumen in der Garage findet der Vater eine alte Ukulele mit nur noch einer Saite und drückt sie seinem 13-jährigen Sohn in die Hand. Der macht das Beste daraus, kauft sich bald für fünf Dollar eine gebrauchte Akustikgitarre, schließlich die erste elektrische und übt wie besessen. Da bleibt für die Schule keine Zeit. Deshalb fliegt er von der Highschool, klaut ein Auto, wie man das so macht als Jugendlicher in dieser Gegend von Seattle, dann noch ein Auto. Der Richter stellt ihn vor die Wahl: entweder zwei Jahre Knast – oder drei Jahre Dienst am Vaterland, bei der 101. US-Luftlandedivision.

Erste Station: Fort Campbell, Kentucky. Bevor es zur nächsten Station Vietnam kommen kann, macht er dem Truppenarzt weis, er sei homosexuell. Die Army schmeißt ihn auf der Stelle raus. Ein Gutes hatten die 13 Monate in Uniform: Hendrix lernte in Kentucky Billy Cox kennen, seinen späteren Bassisten.

Hendrix tourt als Aushilfsgitarrist mit Otis Redding, Little Richard, den Supremes. Er zieht nach New York, erst ins Schwarzen-Viertel Harlem, dann ins Bohème-Quartier Greenwich Village. Dort macht ihm eine Bekannte, die als Callgirl gut verdient, eine schneeweiß lackierte Fender Stratocaster zum Geschenk, und dort macht ihn Linda Keith, die Geliebte des Stones-Gitarristen Keith Richards, erst mit LSD und dann mit Chas Chandler bekannt, dem Ex-Bassisten der Animals. Der erkennt das unglaubliche Talent des Jungen und beschließt, ihn unter Vertrag zu nehmen und nach Europa zu holen. Am 23. September 1966 besteigt der 23-Jährige in New York den PanAm-Jet nach London.

Als Clapton entnervt die Bühne verließ

Chandler reicht seinen Schützling zunächst mal ein bisschen rum, von Club zu Club, von Session zu Session. Eric Clapton, in London als „Gitarren-Gott“ verehrt, verlässt entnervt und vorzeitig die Bühne, nachdem ihn Hendrix beim Jammen förmlich an die Wand gespielt hat. Und Jeff Beck sagt später: „Hendrix spielte so, wie ich immer spielen wollte. Ich konnte es bloß nicht.“

Die erste LP („Are You Experienced“ mit Mitch Mitchell am Schlagzeug und Noel Redding am Bass) schießt 1967 auf Platz 2 der UK Charts, die fünfte und letzte LP („Band of Gypsys“ mit Billy Cox am Bass und Buddy Miles am Schlagzeug) erscheint 1970. In diesen vier Jahren entsteht der Mythos.

Dabei kann der Schulversager aus Seattle nicht mal Noten lesen. Macht nichts. Er ist Synästhet, eine Laune der Natur, er gehört zur Minderheit jener Menschen, die Töne als Farben sehen, er notiert seine Kompositionen mit Buntstiften. Zudem ist er Linkshänder in einer Zeit, in der es bezahlbar nur Rechtshänder-Gitarren gibt. Macht nichts. Als Jugendlicher drehte er das Instrument einfach um 180 Grad, ohne die Saiten zu wechseln; später, auf den großen Bühnen, spielt er komplette Soli, während er die Gitarre hinter seinem Kopf balanciert.

Je nach Laune schlägt er die Saiten mit Zunge oder Zähnen an, er macht mit der Stratocaster und dem Marshall-Verstärker, was er will. Tremolo-Hebel, Wah-Wah-Pedal und das physikalische Phänomen der Rückkopplung scheinen für ihn erfunden worden zu sein, er versetzt die Saiten in solche Eigenschwingungen, dass er minutenlang nur mit der Griffhand spielen kann.

Vom Management um den Erdball gejagt

Die New York Times vergleicht ihn mit den „großen klassischen Virtuosen“. Sein Management jagt ihn erbarmungslos um den Erdball. Hendrix fügt sich klaglos, wirft an Drogen ein, was er kriegen kann – um Schlaf zu finden, um wach zu bleiben, um ständig guter Laune zu sein. Ein Mythos darf sich keine Auszeiten erlauben.

Im Sommer 1969 manifestiert Woodstock den Mythos. Wegen des miserablen Festival-Managements und des miserablen Wetters kann Hendrix erst am Montagmorgen um halb neun auf die Bühne, als das dreitägige Spektakel offiziell schon beendet ist und von der halben Million Besucher nur noch 25.000 im Schlamm ausharren. Der Auftritt wird dank des Albums und des Kinofilms zur Legende, weil Hendrix seine Version der amerikanischen Nationalhymne abliefert: Er dekonstruiert sie, zerhackt und zerfetzt sie, kopiert auf der Gitarre Explosionen, pfeifende Schrapnells, Gewehrsalven, den ganzen Schrecken Vietnams.

Die neue Hymne jener jungen Amerikaner, die ihr Land lieben, aber die Regierung wegen des Kriegs verabscheuen. Das FBI hat den Gitarristen da schon im Visier, weil er mit den Black Panthers sympathisiert. Weniger über den Mythos, mehr über den Menschen erzählt ein anderes der Stücke, die er auf der Woodstock-Bühne spielt: „Villanova Junction“, eine schlichte, kraftvolle, betörend schöne, tieftraurige Blues-Ballade, die das Ende dieser kurzen, steilen Karriere vorwegzunehmen scheint.

Am Abend des 17. September 1970 spielt Hendrix in einem Londoner Club mit Eric Burdon, kehrt in der Nacht zurück ins Hotel und nimmt ein mit Thunfisch belegtes Sandwich, eine enorme Menge Rotwein sowie neun starke Schlaftabletten zu sich. Am Morgen des 18. September 1970 wird er tot in seinem Bett gefunden. Der 27-Jährige ist an seinem Erbrochenen erstickt, stellt die Rechtsmedizin fest.

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