Hochschulpräsident im Interview Ihne will Debatte über Digitalisierung der Arbeitswelt

Bonn · Die Digitalisierung revolutioniert die Arbeitswelt. Daraus ergeben sich Chancen, aber auch Gefahren: Roboter machen in vielen Jobs Menschen überflüssig. Hartmut Ihne, Präsident der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, fordert eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Folgen.

 Kollege Roboter in der Überzahl: Sieht so die Arbeitswelt von morgen aus? Illustration von GA-Grafikerin Sabrina Stamp.

Kollege Roboter in der Überzahl: Sieht so die Arbeitswelt von morgen aus? Illustration von GA-Grafikerin Sabrina Stamp.

Foto: Sabrina Stamp

Welche Errungenschaft des digitalen Zeitalters hat Sie besonders beeindruckt?

Hartmut Ihne: Das Handy. Ich hatte mein erstes Mobiltelefon 1995. Damals rief ich aus den Schweizer Bergen meine Mutter im Oberbergischen an. Sie konnte gar nicht glauben, dass so etwas möglich ist. Das war ein entscheidender, wunderbarer Fortschritt: Das Wesensmerkmal des Menschen, kommunizieren zu wollen, wurde unabhängig vom Ort möglich. Heute bündeln Smartphones unzählige Funktionen. Ich kann auf verschiedenen Kanälen kommunizieren, ich kann mich organisieren, ich kann Geschäfte abwickeln, ich kann Wissen erwerben.

Sie sind seit 2008 Hochschulpräsident. Wie hat sich Ihr persönliches Arbeitsumfeld in dieser Zeit durch die Digitalisierung verändert?

Ihne: Der gedruckte Brief ist fast völlig verschwunden. Er macht vielleicht noch fünf Prozent meiner Korrespondenzen aus, der Rest wird über E-Mails und andere Formate abgewickelt. Während man sich vor ein paar Jahren noch Face to Face traf, gibt es nun häufiger Videokonferenzen oder Chats. Das schafft Flexibilität.

Flexibilität gilt als ein Vorteil der Digitalisierung im Arbeitsalltag, auf der anderen Seite werden Tendenzen wie Informationsüberflutung, Arbeitsverdichtung und Entgrenzung beklagt. Wie sehen Sie das?

Ihne: Diese Gefahr besteht natürlich. Ich glaube aber, dass wir uns insgesamt noch in einer sehr spekulativen Phase bezüglich der Auswirkungen der Digitalisierung befinden. Wir wissen noch nicht so ganz, was bei der Digitalisierung Licht und was Schatten ist. Es gibt eine ganze Bandbreite von Studien, die sehr unterschiedlich ausfallen. Die Euphoriker sehen ein neues Elysium kommen, während die Kritiker geradezu apokalyptische Ausmaße prophezeien und vor der Herrschaft der Maschinen warnen. Vieles ist Science Fiction.

Wo würden Sie sich da einordnen?

Ihne: Ich bin da nüchtern. Ich bin grundsätzlich ein Freund der neuen Technologien, weil sie Gutes bewirken können: das Freiwerden von entwürdigender Arbeit etwa, Nähe und Kommunikation, auch Sicherheit im Straßenverkehr – wenn ich an das autonome Fahren denke. Ich sehe aber auch die Nachteile. Die Studie von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne aus dem Jahr 2013 zeigt auf, dass in den USA jeder zweite Arbeitsplatz durch die Digitalisierung gefährdet ist. Eine Untersuchung der ING Diba hat heruntergerechnet, dass in Deutschland fast die Hälfte der Arbeitsplätze in ihrer jetzigen Form bedroht ist. Das entspricht 18 Millionen Jobs.

Ist die Digitalisierung ein Jobkiller? Der digitale Wandel ist doch bereits im Gange, während die Entwicklung des Arbeitsmarktes positiv ist und Fachkräfte fehlen.

Ihne: Autonome Systeme kommen sicherlich heute schon zum Einsatz – ob in der Industrie, in der Logistik, in der Finanzwelt oder im Dienstleistungsbereich. Aber der Wandel steckt gerade einmal in der Mitte des Anfangs. Schauen wir uns den Begriff der Digitalisierung etwas genauer an. Dahinter stehen zwei Entwicklungen: zum einen die Autonomisierung, zum anderen die Dematerialisierung von Wertschöpfungsprozessen. Der Mensch verschwindet, Dinge werden immer weniger greifbar. Man bestellt über eine App etwas, das über einen 3D-Drucker ausgedruckt wird. Diese Tendenz begünstigt wiederum Verlagerungseffekte, wie der Wirtschaftswissenschaftler Richard Baldwin herausgearbeitet hat. Die Produktion wird noch viel stärker als in den vergangenen Jahrzehnten in Länder abwandern, in denen sich günstiger arbeiten lässt. Das ist unter Ökonomen umstritten, aber man muss diesen Aspekt gerade in Deutschland im Auge behalten.

Welche Berufe sterben aus – und warum?

Ihne:(holt einen Schlüsselbund hervor) Ich will das mal am Prinzip des Schlüssels verdeutlichen. Damit kann ich Haustür, Auto und Bankschließfach öffnen. Wenn ich den Schlüssel nun aber durch das Smartphone ersetze und alles per App regeln kann, wird die Schlüssel-Wirtschaft überflüssig. Dann brauchen wir keine Betriebe mehr, die Schlüssel herstellen und auch keine, die die Maschinen dafür bauen. Das ist ein schleichender Prozess, und das macht die Digitalisierung gefährlich. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ergeben, dass vor allem Berufe gefährdet sind, die mit geringen Anforderungen, viel Routine und hohen Regelmäßigkeiten versehen sind. Dagegen sind Berufe, in denen soziale Intelligenz und ein hohes Bildungsniveau gefragt sind, weniger tangiert. Ein Lehrer etwa ist nicht einfach digitalisierbar.

Damit hätten in erster Linie Geringqualifizierte das Nachsehen, oder?

Ihne: Auch, aber nicht nur. Es sind der Studie nach auch Helferberufe gefährdet, etwa in der Pflege – Stichwort Pflegeroboter. Danach sind 59 Prozent der Helferberufe substituierbar. Die Techniken sind noch nicht ausgereift, aber es wird an selbstlernenden Systemen gearbeitet, die Emotionen erkennen und simulieren können. Das ist nur eine Frage der Zeit. Vielleicht ist es dann sogar möglich, dass wir uns in Roboter verlieben.

Sind wir hierzulande ausreichend auf diese Entwicklung vorbereitet? Umfragen zufolge ist der Begriff Industrie 4.0, der die Digitalisierung der Industrie umschreibt, beim Mittelstand weitgehend unbekannt.

Ihne: Sie spielen auf eine Commerzbank-Studie an, die vor einigen Jahren eine gewisse Innovationsschwäche im Mittelstand festgestellt hat. Wenn der Mittelstand bei der Digitalisierung ins Hintertreffen geraten würde, wäre das für uns nachteilig, da er 70 bis 80 Prozent der deutschen Wirtschaftskraft verantwortet. Ich habe aber den Eindruck, dass die Mittelständler inzwischen sehr wohl wissen, was die Stunde geschlagen hat. Was die technologische Seite angeht, stehen wir in Deutschland aber insgesamt noch vergleichsweise schwach da. Andere Staaten sind uns voraus, China vor allem, oder auch das Baltikum – bei der Digitalisierung der Verwaltung. Was ich vor allem vermisse, ist eine breite gesellschaftliche Debatte.

Worüber?

Ihne: Ich bin mir nicht sicher, ob wir das enorme Tempo der Digitalisierung abfedern können. Wenn Berufe wegfallen, müssen rechtzeitig die Weichen für neue Berufsfelder gestellt werden. Arbeitnehmer mit einfachen Tätigkeiten, deren Jobs gefährdet sind, müssen anders oder höher qualifiziert werden. Je stärker bei diesem Wandel die Brüche ausfallen, desto weitreichender sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Es drohen im schlimmsten Fall soziale Unruhen. In solchen Situationen erhalten populistische Kräfte Auftrieb, die demokratische Systeme ins Wanken bringen können. Das sind Gefahren, über die sich die Politik und die gestaltende Wirtschaft unterhalten müssen, um gegenzusteuern.

Welche Rolle spielt die Wissenschaft dabei?

Ihne: Unsere Aufgabe ist es, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu begleiten. Wir sind dabei gleichzeitig Innovationstreiber und Mahner. Auf der einen Seite entwickeln wir neue Geschäftsfelder, Produkte und Berufe mit. Auf der anderen müssen wir aber auch dazu beitragen, dass demokratische Grundwerte und ethische Grundprinzipien nicht in Gefahr geraten.

Aber will die Wissenschaft nicht immer das Machbare herausholen?

Ihne: Die Wissenschaft ist frei. Die Frage ist immer, ob ich das, was ich erforscht habe, am Ende auch realisieren muss – ganz im Sinne der „Physiker“ von Dürrenmatt. Wir müssen die Grenzen definieren. Wollen wir wirklich, dass bei unserer Kommunikation ständig jemand mitliest? Wollen wir, dass Kameras im öffentlichen Raum unsere Gesichter identifizieren und unsere Emotionen ablesen? Wollen wir ein Social Scoring zur Bewertung unseres gesellschaftlichen Wohlverhaltens? Wollen wir autonome Expertensysteme, die Politik und Justiz beraten? Ich sehe da auch die Informatik als Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts stärker in der Pflicht. Sie muss die Wirkungen digitaler Technologien als eine ihrer Aufgaben begreifen und ethische und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.

Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Grenzen der Digitalisierung?

Ihne: Der Maßstab ist der Mensch selbst. Die Entscheidung muss immer bei uns liegen, jedenfalls bei Fragen, die unmittelbar mit unserer Existenz zu tun haben. Um es mit dem Philosophen Hans Jonas zu sagen: „Setze nur solche Prozesse in Gang, von denen Du weißt, dass und wie Du sie beenden kannst.“ Ein schwieriger Satz, mit dem ich nie so ganz einverstanden war. Mit Blick auf die Digitalisierung ist es aber lohnenswert, darüber nachzudenken.

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