Kommentar Zum Urteil gegen SS-Mann Gröning: Ende einer Lebenslüge

Berlin · Der vielleicht letzte große Auschwitz-Prozess der deutschen Justiz endete gestern mit einem Urteil, dass in seinem Strafmaß noch über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus geht. Vier Jahre Haft für einen 94-Jährigen. Ist das sinnlos, wo doch beim Verurteilten wohl jede Haft de facto lebenslänglich bedeutet? Ist es gar eine dem Rechtsstaat unwürdige Härte?

Nein, das ist es nicht. Schon deshalb nicht, weil mit dem Urteil keine Entscheidung über die Haftfähigkeit getroffen wurde. Weder der Staatsanwaltschaft, noch den zahlreichen Nebenklägern - Überlebende des Todeslagers - ging es um Rache. Es ging nicht darum, einen Greis hinter Gittern sterben zu lassen. Gerade die Auschwitz-Opfer wollten etwas ganz anderes: dass Recht geschieht, dass Mitschuld am industriellen Massenmord nicht ungesühnt bleibt, und dass das freie Deutschland nicht hinweg sieht über Taten und Täter Hitler-Deutschlands - wenigstens diesmal nicht.

Diesmal also ist es tatsächlich zu einer Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen gekommen. Das macht den Prozess außergewöhnlich. Jahrzehntelang ließ die deutsche Nachkriegsjustiz KZ-Täter unbehelligt, wenn ihnen keine direkte und unmittelbare Mord-Beihilfe nachgewiesen werden konnte. Das spiegelte sich im Prozess noch in der Argumentation der Verteidigung, die Freispruch forderte, weil der SS-Mann Gröning an der Auschwitz-Rampe nur auf das Gepäck der ankommenden Juden aufzupassen gehabt, mit der Entscheidung über Leben oder Tod aber nichts zu tun gehabt habe.

Das ist kein spitzfindiger Juristendisput. Hier geht es um eine nachkriegsdeutsche Lebenslüge, die nun endlich in sich zusammenfällt. Die Konzentrationslager waren perfekt konstruierte Maschinen mit detaillierter Arbeitsteilung - mit nur einem Ziel: der Ausbeutung und Tötung der wehrlosen Opfer. Jedes Rad in diesem Mordgetriebe griff ineinander, und deshalb lud jeder, der dort Dienst tat, ob als Buchhalter wie Gröning oder an der Rampe oder in den Gaskammern Schuld auf sich. Diese Auffassung, die schon der mutige Staatsanwalt Fritz Bauer vertrat, der Ende der 50-er Jahre damit begann, Ausschwitz vor deutsche Gerichte zu bringen, wurde von deutschen Richtern lange nicht akzeptiert.

Es war ein außergewöhnlicher Prozess auch deshalb, weil hier ein Angeklagter seine Schuld akzeptierte, sie eingestand und Reue zeigte. "Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte", sagte er. Einfach und klar. Ein Satz, der den überlebenden Auschwitz-Opfern viel bedeutete. Eine Zeugin konnte sich dazu durchringen, dem Angeklagten zu vergeben. Ungewöhnlich auch dies. Vielleicht war es wirklich der letzte große Auschwitz-Prozess. Diese kleinen Keime zukunftsweisender Hoffnung über all dem Leid wären tatsächlich kein schlechter Schlusspunkt.

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