Kommentar Weltflüchtlingstag - Europas Pflicht

55.000 Menschen, das sind so viele, wie in ein Bundesliga- oder WM-Stadion passen. Die 55.000 Menschen, um die es hier geht, sitzen aber nicht auf Plastikschalen und jubeln ihren Lieblingsmannschaften zu. Sie sitzen auf seeuntüchtigen, überfüllten Booten und riskieren ihr Leben.

55.000 Menschen, so viele wie noch nie, haben seit Beginn dieses Jahres die Überfahrt meist von der Küste Libyens über das Mittelmeer nach Italien gewagt. Wie soll Europa mit diesen Menschen und den Hunderttausenden, die ihnen in den kommenden Jahren folgen werden, verfahren?

Diese Frage stellt sich nicht nur, weil am Freitag der Weltflüchtlingstag begangen wurde. Kommende Woche beim EU-Gipfel in Brüssel sollte dieses Thema ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Stattdessen werden sich die Staats- und Regierungschefs vor allem darüber streiten, wer in der EU künftig welchen Posten bekommen wird und wie sehr verschuldete Länder sich weiter verschulden dürfen. Aber solche Fragen verlieren an Bedeutung, wenn massenhaft Menschen im Mittelmeer ertrinken. Bis zu 20 000 Tote gab es hier in den vergangenen 20 Jahren.

Das Zynische dabei ist: Gibt es wie im vergangenen Oktober bei einem Bootsunglück über 350 Tote, hält die Medienwelt und mit ihr das kollektive Gewissen kurz inne. Sterben aber alle paar Tage nur fünf bis zehn Menschen, darunter schwangere Frauen und Kinder, dann interessiert das niemanden.

Das sind die betäubenden Nebenwirkungen des Wohlstands, an den sich Mittel- und Nordeuropäer in Jahrzehnten des Friedens gewöhnt haben. Das Fehlen einer gemeinsamen politischen Antwort auf die unkontrollierte Masseneinwanderung und die Tausenden Todesopfer an Europas Grenzen sind das größte humane Versagen der EU. Was also kann die EU tun? Ihre Grenzen vollständig zu öffnen, ist auch im Hinblick auf die Überlastung der Sozialsysteme oder das Erstarken extremistischer Parteien völlig undenkbar.

Eine effektive Verteidigung der EU-Außengrenzen ist eine Illusion geworden, seit die Herrschaft des Diktators Muammar al-Gaddafi beendet ist und dort Banden das Sagen haben, die sich teilweise selbst als Schlepper betätigen und am Exodus verdienen.

Der bleibt solange Realität, wie es Kriege und Verfolgungen in Afrika und im Mittleren Osten geben wird. Der Zustrom nach Europa wird nicht ab-, sondern weiter zunehmen. Weder schrecken die Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Meer zurück noch lassen sie sich von scharfen EU-Gesetzen abhalten.

Die Abschottung ist deshalb keine Option mehr. Es geht darum, den Zufluss zu regulieren, ihn sinnvoll, gerecht und so sozialverträglich wie möglich zu gestalten. Ein konkreter Schritt in die richtige Richtung wäre, Asylsuchenden die Chance zu geben, bereits vor der Überfahrt einen entsprechenden Asylantrag in den Botschaften der EU-Staaten zu stellen. Bei einem positiven Bescheid kann dann eine sichere und legale Überfahrt garantiert werden.

Die 28 EU-Staaten sollten sich zudem über Aufnahmequoten einigen. Gewiss, Europa hat viele Schwächen. Seine Stärke aber sind weitgehender Wohlstand und Frieden. Beides verpflichtet die Europäer gegenüber denjenigen, die am Rande ihrer Existenz stehen.

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