Vor dem Jahrestag des Mauerfalls - Es war das Volk

Wenn Bundespräsident Joachim Gauck heute Abend in Leipzig an die große Montagsdemonstration des 9. Oktober 1989 erinnert, wird viel von Freiheit und Zivilcourage die Rede sein.

Und davon kann man gar nicht genug sprechen, denn dieser größte Protestmarsch in der DDR seit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ist zu Recht als Wendepunkt in die Geschichte des zweiten deutschen Staates eingegangen. Der friedliche Protest der Massen in Leipzig hat die Mauer zum Einsturz gebracht, auch wenn das damals noch niemand wissen konnte.

Natürlich war es nicht dieser Protest allein. Überall in den Städten der DDR gingen ja die Menschen in jenem Herbst auf die Straßen. Friedlich und furchtlos, trotz des noch frischen Blicks auf die Massaker in China. Und nicht nur in der DDR, genauso in vielen anderen Staaten des Ostblocks, allen voran in Ungarn.

"Wir sind das Volk", war ihr Slogan, während sie Montag für Montag umzingelt wurden von den Sicherheitskräften des Regimes. Dass der Protest friedlich blieb, lag jedoch nicht nur an den Demonstranten, sondern genauso an den Befehlshabern von Polizei, Stasi und Militär. Sie riskierten den Zugriff nicht mehr - je mehr Demonstranten es wurden, desto weniger. Und es wurden immer mehr.

Zur Realität des Ostblocks Ende der 80er Jahre gehörte natürlich auch, dass die kommunistisch-sozialistischen Systeme wirtschaftlich ausgeblutet waren. Tag zu Tag mehr. Es gab für die Planwirtschaften Mittel- und Osteuropas keine Zukunft.

Und schließlich bedurfte es mutiger Männer auch auf der Seite der Herrschenden. Deshalb ist auch das richtig: Ohne Michail Gorbatschows realistische Einschätzung der Lage und seinen Entschluss zum Gewaltverzicht wäre es nicht zum Zusammenbruch der Regime gekommen - jedenfalls nicht in jenem atemberaubenden Tempo des Herbstes 1989.

Weil das alles so war, ist es umso unverständlicher, wie Altkanzler Helmut Kohl diese Vorgänge heute bewertet - oder besser, wie er es vor einem Jahrzehnt getan hat - allerdings bis heute unwidersprochen. Er würdigt die Leistung der Demonstranten in der DDR in einer Weise herab, die Bitterkeit hochkommen lässt.

Etwa wenn er zu Protokoll gibt, die Vorstellung, die Menschen im Osten hätten in erster Linie den Zusammenbruch des Regimes erkämpft, entspringe dem "Volkshochschulhirn" von Wolfgang Thierse, dem ersten ostdeutschen Bundestagspräsidenten. Oder wenn er zu Gorbatschow sagt, vom ihm bleibe übrig, dass er den Kommunismus ohne Gewalt und ohne Blutvergießen abgelöst habe: "Sehr viel mehr, was wirklich bleibt, fällt mir nicht ein."

Dieses Urteil des Kanzlers der Einheit, der so gern vom Mantel der Geschichte gesprochen hat, ist geschichts- und würdelos. Der Bundespräsident wird es heute zurechtrücken.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Die Demokraten zeigen Zähne
Kommentar zur Situation der AfD Die Demokraten zeigen Zähne
Zum Thema
Ende der Naivität
Kommentar zu russischer Spionage in Deutschland Ende der Naivität
Aus dem Ressort