Kommentar SPD und Grüne - Das Projekt war gestern

Alle Fenster und Türen auf. Einmal kräftig durchlüften nach 16 Jahren Regierungszeit des gefühlten Ewigkeitskanzlers Helmut Kohl. Und dann das Land umbauen. So dachten viele Sozialdemokraten und noch mehr Grüne, als Rot-Grün 1998 im Bund an die Macht kam.

Die Vorstellung, man könne gemeinsam eine Zeitenwende starten, wirkte wie Glückshormone. Das Ende der Ära Kohl war der Anfang einer Koalition, die sich in der verständlichen Euphorie der frisch gewonnenen Macht im Bund zum rot-grünen Projekt stilisierte. Eine Koalition als Projekt und somit auch als Ausdruck eines quasi gemeinsamen Lebensgefühls, das hatte die Republik bis dato nicht erlebt.

Mindestens einem war bei so viel Projekt nicht wohl: Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Schnell stutzte er die Grünen zum Kellner, während er als Sternekoch regierte. Familienpolitik war "Gedöns". Die Grünen wiederum färbten ihrem Außenminister beim legendären Kosovo-Kriegsparteitag Ohr und Anzug Rot, als Joschka Fischer der Farbbeutel eines zornigen Pazifisten traf.

Längst wissen SPD und Grüne, die sich schon vor dem Ende der rot-grünen Koalition im Bund 2005 erkennbar voneinander entfernt hatten, dass Regieren und Projekte nicht füreinander taugen. Koalitionen sind bei aller gewünschten Gemeinsamkeit Arbeitsbündnisse auf Zeit. Mehr nicht.

Rot-Grün im Bund hat dafür reichlich Lehrgeld bezahlt. Und Schwarz-Gelb ergeht es seit der Regierungsübernahme nach Ende der großen Koalition 2009 nicht besser. Eine Wunschkoalition bedeutet noch lange nicht die Erfüllung vieler Wünsche. Eine Koalition muss sich jeden Tag neu im Regierungsgeschäft bewähren. Selten haben sich im Regieren geübte Koalitionspartner wie CDU, CSU und FDP derart beharkt ("Wildsau"/"Gurkentruppe"), Neustarts ausgerufen und schwer miteinander getan wie die aktuelle Koalition.

Wenn Stephan Weil jetzt in Niedersachsen ein rot-grünes Kabinett anführt, muss dem neuen Ministerpräsidenten klar sein, dass er Verantwortung für den Ausgang der kommenden Bundestagswahl trägt. Nur eine Stimme Mehrheit für Rot-Grün im niedersächsischen Landtag verträgt nicht einen Tag Experimente nach Art eines Projektes. Das Einzige, was für SPD und Grüne zählt, ist der Beweis einer grundsoliden Arbeitskoalition. Gemeinhin entzaubern sich Koalitionspartner im Regierungsalltag. Wer regiert, braucht den langen Atem, nicht die Schnellkraft des Sprinters.

Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 ist völlig offen. Sollte es für Rot-Grün tatsächlich reichen, hätten sie keinen Tag Schonzeit. Die FDP kann ihre Geschichte erzählen, wie schnell man von einem Traumergebnis von 14,6 Prozent heruntergeholt wird. Die nächste Koalition muss vor allem eines: Sie muss funktionieren. Und das ist viel.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Sehr viele Stühle: Der Bundestag soll
Nicht ohne Nachteil
Kommentar zur WahlrechtsreformNicht ohne Nachteil
Viel Potenzial bei Ungelernten
Kommentar zur Arbeitslosenquote Viel Potenzial bei Ungelernten
Eine andere Welt
Kommentar zu den weltweiten Militärausgaben Eine andere Welt
Zum Thema
Der Unruhestifter
Kommentar zur Rede von Emmanuel Macron an der Sorbonne Der Unruhestifter
Moral ist anstrengend
Kommentar zum Lieferkettengesetz Moral ist anstrengend
Noch nicht aufgewacht
Kommentar zum Treffen zwischen Scholz und Sunak Noch nicht aufgewacht
Nur Warten reicht nicht
Kommentar zur Frühjahrsprognose Nur Warten reicht nicht
Aus dem Ressort