Kommentar Nato-Abzug aus Afghanistan - Furcht vor Dominoeffekt

Ungleichzeitigkeit war in der Geschichte schon oft das größte Übel in Afghanistan, wo die Uhren so ganz anders gehen. Die Sehnsucht des Westens nach einem zügigen wie möglichst durchdacht wirkenden Abgang aus dem Bürgerkriegsland macht das Problem deutlich.

Die von Frankreichs neuem Präsidenten François Hollande erzwungene Debatte um einen früheren Abzug von Kampftruppen - 2012 statt 2014 - ist aus militärischer Sicht fast unerheblich. 3100 französische Soldaten, noch dazu stationiert in einer eher ruhigen Provinz, entscheiden nicht über Krieg und Frieden. Nach außen meckern Nato und Bundesregierung pflichtschuldig darüber. Nach innen sagen sie: halb so schlimm.

Psychologisch ist der Schritt, den Paris nach den Parlamentswahlen am 17. Juni durch mehr Einsatz bei der Ausbildung afghanischer Soldaten und andere geldwerte Leistungen "verrechnen" will, trotzdem von Belang. Stichwort: Dominoeffekt. Nur ein einziger katastrophaler Anschlag in der nächsten Zeit auf Bundeswehr-Soldaten kann im aufziehenden Bundestagswahlkampf bei Opposition und Teilen der Koalition Begehrlichkeiten entstehen lassen, es den Franzosen gleich zu tun und das nächste Bundestagsmandat für den Afghanistan-Einsatz mit einer drastischen Abzugskomponente zu versehen.

Von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bereits in der Euro-Krise gegen den Strom schwimmt, erwartet Amerika das genaue Gegenteil. Eine der Hauptabzugsrouten für die Massen von Menschen und Material, die der Westen vor über zehn Jahren ins Land gebracht hat, führt durch den Norden Afghanistans.

Dort hat Deutschland im Bündnis militärisch den Hut auf und wird nach der Devise verfahren müssen: Der Letzte macht das Licht aus. Bis dahin ist es noch ein steiniger Weg. Amerikanische Militärs gehen bis 2014 von schweren, verlustreichen Kämpfen und manch anderen Rückschlägen aus. Diese Bewertung steht im Kontrast zu der in Chicago politisch herbeigeredeten Stimmung, Afghanistan könne schon sehr bald auf verantwortliche Weise selbst dauerhaft für die eigene Sicherheit sorgen.

Wer vor Ort mit Militärs, Hilfsorganisationen und Einheimischen spricht, weiß: Trotz aller Fortschritte kann von Stabilität nicht gesprochen werden. Im Süden haben die Taliban punktuell immer noch das Sagen. Die Waffen zu strecken und über eine Regierungsbeteiligung in Kabul den Weg der Re-Integration zu gehen, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Warum auch, wo unklar ist, was politisch nach Präsident Hamid Karsai kommt, der spätestens 2014 abdanken wird? Davon abgesehen blühen Korruption und Drogenanbau unverändert heftig. Eine tragfähige wirtschaftliche Entwicklung hat es in den vergangenen zehn Kriegsjahren nicht gegeben.

Der Abzug des Westens wird das afghanische Bruttosozialprodukt mehr als halbieren und Tausende, die über die Nato ein ordentliches Auskommen als Dolmetscher oder Fahrer hatten, in die Arbeitslosigkeit entlassen. Alles in allem ein ziemlich labiler Ist-Zustand, über den in Chicago zu wenig gesprochen wurde. Die Karawane des Westens ist abseits aller Versprechen auf milliardenschwere Hilfszahlungen, die im Sommer in Tokio festgeklopft werden sollen, in Gedanken bereits weitergezogen. Irgendwann wird sich das rächen.

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