Kommentar Nach 100 Tagen

Die ersten 100 Tage in neuer Position gelten als eine Zeit, in der sich der neue Amtsinhaber, unterstützt von den eigenen Leuten, in Ruhe einarbeiten kann und sich der politische Gegner weitgehend zurückhält. Erste politische Akzente sind da sicher drin, doch den großen Politikentwurf gibt es in aller Regel noch nicht.

Insofern ist es unangemessen, wenn führende Vertreter der rheinland-pfälzischen SPD in diesen Tagen davon sprechen, dass die neue Ministerpräsidentin Malu Dreyer nach 100 Tagen "eine beispielhafte Bilanz" vorgelegt und "mit einer beeindruckenden Entschlossenheit und Tatkraft überzeugt" habe. Übertrieben ist auch, wenn die CDU in Bezug auf den Flughafen Hahn und den Nürburgring erklärt, bei beiden Projekten drohe "der absolute Kollaps". Weder das überschwängliche Lob der Genossen noch die Holzhammerkritik der Opposition passen zu den 100 Tagen. Aber das ist fünf Monate vor der Bundestagswahl wohl dem Vorwahlkampf geschuldet.

Nüchtern betrachtet hat Dreyer atmosphärisch einen guten Start hingelegt. Dass fast zwei Drittel der Bürger mit ihr zufrieden sind, zeigt ihre Popularität. Sie ist im Amt angekommen und auf dem Weg, zur Landesmutter zu werden. Insofern kann sich Kurt Beck im Nachhinein noch bestätigt fühlen, dass er sich für Dreyer als Nachfolgerin entschieden hat.

Was die Sachpolitik angeht, hätte man der neuen Ministerpräsidentin gewünscht, dass sie beherzter manch heikles Problem angepackt hätte. Etwa beim Nürburgring: Hier hat die Opposition mit ihren Kontakten nach Berlin und Brüssel für Dreyer den Weg zur EU-Kommission bereitet. Positiv hingegen ist, dass die Landesregierung - anders als früher - ein offenes Ohr für die Region zu haben scheint und Vertreter aus der Eifel an Gesprächen über die Zukunft von Rennstrecke und Freizeitpark beteiligt.

Ungewöhnlich deutlich ist das Kabinett zuletzt von den Industrie- und Handelskammern kritisiert worden. Vor allem, so die Argumentation, weil die Infrastruktur im Land nicht mehr stimme und sich die grüne Wirtschaftsministerin Eveline Lemke mehr um den Ausbau der Windkraft als um die Sicherung der Arbeitsplätze in angestammten Branchen bemühe. Damit liegt die Wirtschaft nicht ganz falsch.

Und weil der Grünen-Fraktionschef auch noch den rot-grünen Kompromiss zum Weiterbau der A1 in der Eifel infrage gestellt hat, ist das Unbehagen in der Wirtschaft noch gewachsen. Klar, eine gute Regierungspolitik hat nicht nur damit zu tun, die Wirtschaft zufriedenzustellen. Doch die Mainzer Landesregierungen sind stets gut mit einer wirtschafts- und vor allem mittelstandsfreundlichen Politik gefahren. In diese Richtung tätig zu werden, wäre eine wichtige Aufgabe für die Regierungschefin Dreyer - auch über die nächsten 100 Tage hinaus.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Ende der Naivität
Kommentar zu russischer Spionage in Deutschland Ende der Naivität
Zum Thema
Jana Marquardt
zu Arbeitslosen in Deutschland
Viel Potenzial bei Ungelernten
Kommentar zur ArbeitslosenquoteViel Potenzial bei Ungelernten
Eine andere Welt
Kommentar zu den weltweiten Militärausgaben Eine andere Welt
Wieder ein Endspiel?
Kommentar zur krieselnden Ampel-Koalition Wieder ein Endspiel?
Aus dem Ressort