Lage in Frankreich nach den Anschlägen - Chance für die Nation

PARIS · Frankreich "danach" ist nicht mehr dasselbe. Wie nachhaltig die Anschläge auf das Magazin "Charlie Hebdo" und einen koscheren Lebensmittelmarkt in Paris das Land verändert haben, wird erst die Zeit zeigen.

Doch die unmittelbare Reaktion ist überwältigend. Die unzähligen Initiativen und die Kundgebungen, von denen gestern die größte unter Beteiligung vieler ausländischer Staats- und Regierungschefs stattfand, drücken das Bedürfnis aus, eine geeinte Front gegenüber der unkalkulierbaren Gefahr zu bilden, die von skrupellosen Terroristen ausgeht.

Das Gedenken an "Charlie" scheint allgegenwärtig. Das Magazin ist zum Symbol für die Freiheit geworden. Die Freiheit, ohne Angst zu provozieren, zu spotten und niemanden, auch keine Religion, dabei zu verschonen. Die Verletzung dieses Grundrechts hat aufgerüttelt. Oft ist die Rede von einem "französischen 11. September".

Die Franzosen sind traditionell schnell bereit, auf die Straße zu gehen, um ihre Ansichten, Rebellion oder Bestürzung kundzutun. Trotzdem ist die derzeitige Mobilisierung außergewöhnlich - zumal angesichts der angespannten Sicherheitslage. Präsident Hollande hat deutlich gemacht, dass das Anschlags-Risiko längst nicht gebannt ist.

Auch wird bald die Debatte darüber lauter werden, ob es bei der Überwachung und Verfolgung der Terroristen Fehler gab; es werden Lösungsvorschläge zu dem Problem erwartet, dass das Land seine eigenen Feinde heranzieht: Die Attentäter waren Franzosen und hatten sich in französischen Gefängnissen radikalisiert. Mehr als 1000 junge Männer und Frauen befinden sich zurzeit in Trainingslagern islamistischer Terroristen im Ausland - tickende Zeitbomben, die eine permanente Bedrohung darstellen. Wie kann ihr begegnet werden? Die Vorratsdatenspeicherung hat Frankreich längst eingeführt.

Eine pauschale Verurteilung der Muslime blieb bis jetzt aus. Als gemeinsamer Feind wird nicht der Islam ausgemacht, sondern Terrorismus, der unter dem Vorwand eines Glaubenskrieges mordet. Zumindest momentan dominiert der Wille, mehr denn je zusammenzurücken. So kann bei aller Tragik auch eine neue Chance für die Nation entstehen, sich wieder als geeinte Wertegemeinschaft wahrzunehmen. Denn das Frankreich "davor" war zutiefst verunsichert, es fürchtete, durch die Globalisierung und Einwanderer überrollt zu werden und vermisste einen starken Mann an der Spitze.

Zugleich besteht auch die Gefahr, bestehende Spaltungen zu vergrößern, wie der Streit um den Ausschluss des rechtsextremen Front National vom Gedenkmarsch zeigt. Aber nicht um Madame Le Pen ging es gestern. Sondern um den Ausdruck eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das Partei-, Länder- und kulturelle Grenzen überwindet. Frankreich ist zu wünschen, dass es noch lange von ihm getragen wird.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Die Lage ist ernst
Kommentar zur islamistischen Bedrohung Die Lage ist ernst
Euphorie im Anflug
DFB-Team überzeugt gegen Frankreich Euphorie im Anflug
Zum Thema
Kosten über Sicherheit
Kommentar zum Einsturz der Brücke in Baltimore Kosten über Sicherheit
DFB-Team mit neuem Spirit
Kommentar zur Fußball-Nationalmannschaft DFB-Team mit neuem Spirit
Assange und das Recht
Kommentar zur aufgeschobenen Auslieferung Assange und das Recht
Aus dem Ressort