Kommentar zu den Grünen Die Anti-Radikalen

Meinung · Die Grünen stellen sich mit ihrem neuen Grundsatzprogramm für das digitale Zeitalter neu auf. Dabei berufen sie sich vor allem auf traditionell grüne Themen.

 Die Grünen-Spitze: Die Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck (l.) sowie Michael Kellner, politischer Bundesgeschäftsführer.

Die Grünen-Spitze: Die Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck (l.) sowie Michael Kellner, politischer Bundesgeschäftsführer.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Die Grünen wollen es wissen. Sie wollen führen. Sie wollen regieren. Sie wollen den Wählerinnen und Wählern in unsicheren Zeiten ein neues Angebot machen. Neu erfunden hat sich die Partei mit ihrem neuen Grundsatzprogramm deswegen nicht, das wäre übertrieben, aber sie stellen sich für das digitale Zeitalter – auch unter den Vorzeichen der Pandemie – neu auf. 18 Jahre ist die Ökopartei mit ihrem Grundsatzprogramm von 2002 durch die Welt und durch viele Wahlen gekommen. Inzwischen regieren sie in elf von 16 Bundesländern mit oder stellen mit Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg den ersten Ministerpräsidenten ihrer Geschichte.

2020 will die Partei, die so gerne wieder im Bund mitregieren würde, mit einem neuen Grundsatzprogramm in eine neue Ära aufbrechen. Alte Kämpfe wie der um das Ende der Atomkraft oder die Beteiligung deutscher Soldaten an Nato-Kampfeinsätzen sind längst ausgefochten, Farbbeutel dabei geplatzt, Träume vom ewigen Pazifismus gleich mit. Jetzt liegt der Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm auf dem Tisch, den ein Bundesparteitag im November in Karlsruhe noch beschließen soll.

Traditionell grüne Werte wie Klima, Umwelt, erneuerbare Energie, mit der Natur im Einklang stehende Landwirtschaft ohne Massentierhaltung, Einstieg in emissionsfreien Verkehr und eine Welt ohne fossile Brennstoffe sind weiter zentrale Ziele grüner Politik. Aber eine neue Zeit verlangt auch neue Antworten. Die Pandemie hat vieles verändert, Staaten und Unternehmen in tiefe Krisen gestürzt. Parteien müssen darauf Antworten liefern. Ebenso für die tiefen Umwälzungen in einer stetig älter werdenden Gesellschaft. Eine Antwort auf die Schieflage der Sozialsysteme haben die Grünen nun frisch recycelt: Sie wollen etwa das bisherige System der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung durch eine Bürgerversicherung ersetzen, in das alle Bevölkerungsgruppen einzahlen.

Die Grünen verstehen sich als Partei einer neuen Mitte, gewachsen zur Mittelpartei. Sie sind ein Faktor für eine nächste Regierungsbildung im Bund, nicht mehr, nicht weniger. Die Anti-Parteien-Partei, die einmal gegen alles war, ist längst angekommen im bürgerlichen Establishment. Wenn sie radikal sind, dann höchstens radikal realistisch. Die Grünen, die einst mit wehender Sonnenblume-Fahne zum Protest auf den Acker gingen, sind die neuen Anti-Radikalen, bereit zum Regieren, nicht zur Revolte

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