Kommentar Flüchtlinge: Merkelsche Wendung

Die Koalitionsrunde im Kanzleramt stand wegen des Streits zwischen den Unionsschwestern unter keinem guten Stern. Wie im echten Leben so muss auch beim Krach in der politischen Familie sauber zwischen Anlass und Grund unterschieden werden.

Der Anlass: Angesichts der unhaltbaren Zustände in Budapest hatte Angela Merkel in einem Telefonat mit den Staatschefs von Ungarn und Österreich pragmatisch entschieden, dass die nach Westen drängenden Menschen kommen können. Ja, die Kanzlerin hat auch die Ministerpräsidenten Winfried Kretsch-mann und Thorsten Albig nicht vorab informiert. Auch sie könnten vergrätzt sein, weil jetzt einige Flüchtlinge mehr in ihre Bundesländer kommen.

Nein, der wahre Grund für die Verstimmung in München ist ein anderer: Horst Seehofer und seine Leute merken, dass Merkel sich wieder einmal häutet, dass sie die politische Dimension der Flüchtlingsfrage erkannt hat und daraus parteipolitisch Kapital schlagen wird. Die CSU neidet der Kanzlerin den Glanz. Sie merkt, dass Merkel sich mit dem Thema Flüchtlinge präsidial in Szene setzt und erfolgreich diese neue politische Herausforderung angenommen hat. Eine Merkelsche Wendung übrigens, die angesichts der Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Wirtschaft stehen, durchaus angemessen ist.

Die CSU wird sich schon wieder einkriegen. Alle wissen, dass jetzt gehandelt werden muss. Im Unterschied zur Griechenland-Frage, als das Handeln abstrakt war, es um Bürgschaften und Garantien ging, muss jetzt konkret Geld locker gemacht werden. Die Länder und Kommunen sind die ersten, die enorme finanzielle Zusatz-lasten tragen. Es ist klar, dass der Bund ihnen viel Geld zustecken muss, für Unterkunft und Versorgung der Menschen in der Anfangszeit. Ein Großteil der Menschen, die jetzt zu uns kommen, wird lange bleiben, vielleicht für immer. Da ist es notwendig, viel Geld in die Integration zu stecken. Kinder müssen Sprachunterricht bekommen, damit sie möglichst schnell in der Schule Anschluss finden. Die Erwachsenen müssen herangeführt werden an den Arbeitsmarkt. Wenn jetzt die Weichen richtig gestellt werden, hat unser Land viele Chancen: Der Zustrom der Menschen kann helfen, die Alterung der Gesellschaft zu lindern. All das kostet Geld. Die Steuereinnahmen laufen so gut, dass der Bund kurzfristig Mehrkosten schultern kann, ohne das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes zu gefährden. Auf mittlere und lange Sicht sieht es anders aus. Es ist unheimlich still geworden um die Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Bevor sich die neue Lage mit den Flüchtlingen abzeichnete, war die Forderung der Länder, die Hälfte vom "Soli" abzubekommen, ja ziemlich dreist. Nun gibt es aber eine neue Situation. Man sollte sich nicht wundern, wenn die Bundesregierung den Ländern die Hälfte des Aufkommens anbietet.

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