Kommentar Europa nach dem Schweizer Votum - Zeit der Vernunft

Der Donner des Schweizer Votums gegen die "Masseneinwanderung" hallt laut und deutlich nach. Europa ist aufgeschreckt. Am leichtesten fällt es derzeit, auf die vermeintlich engstirnigen Schweizer einzudreschen. Sie haben halt nicht verstanden, worum es geht. Sie haben nicht verstanden, dass der Wohlstand von Internationalität und Freizügigkeit abhängt. Es ist auch leicht, Konsequenzen zu fordern. Jetzt müsse die EU diesen Undankbaren im wahrsten Sinne die Grenzen aufzeigen.

Etwas schwieriger, aber zielführender ist es, das Schweizer Votum sachlich zu analysieren. Zu versuchen, die Entscheidung zu verstehen. Zu überlegen, welche Ursachen ein solches Votum hat, und zugleich Lösungen auch für andere europäische Länder aufzuzeigen, denen Vorbehalte gegenüber der EU ebenfalls nicht fremd sind - wie etwa Großbritannien oder die Niederlande.

Denn natürlich wäre es zu platt, den Schweizern dumpfe Ausländerfeindlichkeit vorzuwerfen. Hier geben Fakten statt Aufgeregtheiten einen Hinweis: In der Schweiz ist fast jeder vierte Bewohner ein Ausländer, in Deutschland sind es rund neun Prozent. Wie würden wir Deutschen abstimmen, wenn wir nach Phasen massiver Zuwanderung einen Ausländeranteil von knapp 25 Prozent hätten?

Hierzulande gehen Parteien wie die CSU im Kommunal- oder die AfD im Bundes- und Europa-Wahlkampf schon jetzt mit Parolen gegen Zuwanderung und Freizügigkeit auf Wählerfang. Ironie der Geschichte: In Deutschland richtete sich die Stimmung jüngst gegen Bulgaren und Rumänen, in der Schweiz ist die "Masseneinwanderung" der Deutschen, Franzosen und Portugiesen unerwünscht - alles eine Frage der Perspektive.

Im Widerspruch zu diesen Vorbehalten steht die letztlich unbestrittene Tatsache, dass es zu einem gemeinsamen Europa im globalen Wettbewerb keine Alternative gibt. Frieden und Freiheit, Wachstum und Wohlstand, Offenheit und Freizügigkeit sind nur gemeinsam möglich. Doch um das zu erreichen, braucht es mehr als Zahlen, Daten, Fakten. Es braucht Vertrauen und Miteinander, es braucht Zeit und Geduld. Und die Erkenntnis, dass es immer wieder Vorbehalte, Vorurteile und Rückschläge wie etwa die europäische Schuldenkrise geben wird, die die Menschen an Europa und den Handelnden zweifeln lassen.

In schweren Zeiten sucht man dann einen Rückzugsort. Das ist (noch) nicht Europa, sondern der eigene Staat, der jahrzehntelang Sicherheit gab. Die EU und deren Institutionen sind weiterhin zu weit weg von vielen Menschen, Europa gilt dort als Elitenprojekt.

Deshalb ist es zu billig, das Schweizer Votum zu skandalisieren. Die EU und die Schweiz haben jetzt drei Jahre Zeit, kluge Lösungen zu finden. Streit und gegenseitige Vorwürfe wären die falschen Ratgeber.

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