Kommentar Digitale Demenz - Weckruf

Macht das Internet dumm und krank? Sind Computer Lernverhinderungsmaschinen? Nicht erst seit am Sonntagabend der Ulmer Psychiatrieprofessor Manfred Spitzer mit Günther Jauch seine provozierenden Thesen im Fernsehen diskutiert hat, ist das Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Dabei geht es immer drängender um die Frage, welche Auswirkungen elektronische Medien auf unser Leben, unsere Gesellschaft haben.

Dazu gibt es beunruhigende Zahlen. Nach dem aktuellen Bericht der Bundessuchtbeauftragten sind in Deutschland inzwischen eine halbe Million Menschen internet- und computersüchtig und eine weitere halbe Million gefährdet. Die Krankenkassen berichten von einer dramatischen Zunahme von Burn-out am Arbeitsplatz, häufig begünstigt durch permanente Erreichbarkeit per Handy oder E-Mail-Terror. Konzerne wie VW haben schon die Notbremse gezogen und Limits gesetzt.

"Mach jetzt bitte den Computer aus!" "Leg doch mal das Handy weg!" In unzähligen deutschen Kinderzimmern und an ebenso vielen Esstischen liefern sich Eltern Tag für Tag einen zermürbenden Kleinkrieg mit der US-amerikanischen und japanischen Elektronikindustrie. Immer mehr Zeit verbringen junge Menschen vor Bildschirmen und Displays jeder Größe: Mehr als zwei Stunden vor dem Fernseher, rund zwei Stunden am Handy und zusammen mit dem Computer mehr als zwei Stunden täglich im Internet. Die gute Nachricht: die 14- bis 29-Jährigen sehen in Deutschland nur noch halb so viel fern wie die über 50-Jährigen mit fünf Stunden.

Man muss kein Psychiatrieprofessor sein, um vermuten zu dürfen, dass eine exzessive Nutzung digitaler Medien der Gesundheit schadet. Es ist das Verdienst von Spitzer und anderen Forschern, die Wirkungsweisen zu untersuchen. Erst am Mittwoch hatten Forscher der Uni Bonn bekannt gegeben, dass es für Online-Abhängigkeit auch eine molekulargenetische Ursache geben könnte.

Spitzers Thesen schießen freilich an manchen Stellen übers Ziel hinaus. Wer Computer und Internet geschickt zu nutzen weiß, gewinnt damit Lebensqualität. Es muss kein Fehler sein, Informationen aus dem eigenen Gehirn aufs Handy auszulagern. Wenn damit Platz geschaffen wird für Wichtigeres. Allerdings heißt zu wissen, wo etwas steht, noch lange nicht, dass man es auch verstanden hat. Die Online-Welt ist kein Ersatz für die reale, dreidimensionale, in der alle Sinne stimuliert werden. Sie ist eine Ergänzung, und die Mischung macht's.

Wissenschaft, Wirtschaft und Politik entschlüsseln die Botschaft der digitalen Medien erst allmählich. Vom ersten Auto bis zur Gurtpflicht hat es auch etwas länger gedauert. Ein Weckruf, der auf Gefahren aufmerksam macht, wie das Buch von Spitzer, schadet dabei nicht.

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