Kommentar zur Zukunft der EU Das Versagen aller

Plötzlich steht der unaussprechliche Satz im Raum: Diese EU kann auch scheitern. Die Flüchtlingskrise konfrontiert die Europäer schärfer noch als jedes andere Thema mit ihrer eigenen Unterschiedlichkeit. Längst haben einige Mitgliedstaaten die Brüsseler Zentralverwaltung entmachtet und eigene Lösungen zur Abwehr von Asylbewerbern durchgesetzt.

Das Schengen-System mit seiner Reisefreiheit wurde regelrecht pulverisiert. Europa ist zu Zäunen und Kontrollen zurückgekehrt. Wer ganz dunkel malt, redet vom Ausbruch bewaffneter Konflikte auf dem Kontinent, der doch nichts mehr wollte als nie wieder Krieg.

Dabei ist es ebenso richtig wie falsch, die Schuld nach Brüssel zu schieben. Das Versagen liegt bei allen gleichermaßen: bei jenen, die die Verantwortung an die überforderten Randstaaten abschieben wollen. Und bei denen, die auf deren Kosten vorgeben, Menschlichkeit zeigen zu müssen. Europa wollte immer beides: Verantwortung gemeinsam tragen und Humanität leben. Da man sich nicht einigen kann, scheint beides verloren zu gehen. Am Ende auch die Gemeinschaft selbst?

Tatsächlich gibt es in der Flüchtlingskrise schlichtweg nichts zu loben. Auch wenn man sich auf Gipfeltreffen stets irgendwie auf ein paar Schrittchen einigte, blieb der große Durchbruch aus. Auch deswegen, weil die EU auf eine Krise reagieren muss, die sie selbst weder beeinflussen noch abstellen kann. Dennoch hätte man einen Aktionsplan schneller aufstellen und umsetzen können: eine gemeinschaftliche Grenzpolizei, ein dichtes Netz von Kon-trollstellen zur Sicherstellung von Einreisekontrollen, mehr Geld für die besonders betroffenen Staaten - all das wäre möglich gewesen. Ergänzt um eine Korrektur des Dubliner Systems, um Lösungen nicht immer nur anzukündigen, sondern zu schaffen. Dazu dürfte man durchaus auch einige Tabus brechen: Um Asyl und Schutz entsprechend der europäischen Verträge und der Genfer Flüchtlingskonvention garantieren zu können, muss man diejenigen, denen dieser Schutz zusteht, von denen trennen, die ihn nur ausnutzen wollen. Wer solche harten Schritte scheut, riskiert, dass am Ende aller Schutz entfällt.

Es ist zwar richtig, dass auch in dieser Gemeinschaft Umdenken manchmal etwas länger dauert. Aber für Gedankenspiele und Herantasten an unkonventionelle Lösungen fehlt die Zeit. Man hat bisher immer noch nicht den Eindruck, dass alle im gleichen Maße die Herausforderung und die mit einem Scheitern möglichen Risiken verstanden haben. Insofern mag die Warnung des luxemburgischen Außenminister drastisch, aber sehr berechtigt gewesen sein.

Doch dabei darf es nicht bleiben. Das außenpolitische Arsenal der Union muss viel schneller aktiviert werden, um mit der Türkei und den afrikanischen Partnern zu Antworten zu kommen. Die Verhandlungen über Syrien müssen zügiger durchgezogen werden. Dazu braucht es die gesamte Gemeinschaft und alle Instrumente dieser Union, um Länder, Regionen und Gemeinden zu unterstützen. Die EU mag spät dran sein, aber es ist noch nicht zu spät. Und sie sollte sich auf das besinnen, was sie vor dieser Krise alles geschaffen hat und was nun auf dem Spiel steht. Diese Errungenschaften sind zu teuer erkauft, als dass man sie riskieren dürfte.

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