Kommentar Angst vor dem Bruch

Der Abschuss der malaysischen Boeing vor einem Jahr über dem Donbass war Höhepunkt eines "halben Krieges", dessen Regeln Russland im Konflikt mit der Ukraine und dem Westen schrieb. Die Katastrophe ist mehr denn je ein Politikum.

Im UN-Sicherheitsrat bahnt sich eine verbale Saalschlacht an, weil Malaysia und vier andere Staaten die Einsetzung eines UN-Tribunals über die Schuldigen fordern. Russland winkt schon mit einem Sicherheitsratsveto, sein UN-Botschafter Witali Tschurkin redete von einer "grandiosen politischen Show." Früher seien auch Passagierflugzeuge abgestürzt, niemand habe deshalb Tribunale eingerichtet. Und wie gestern der britische "Telegraph" berichtete, reichten die Angehörigen von 18 Opfern vor einem Gericht in Chicago eine publikumswirksame 900-Millionen-Dollar-Klage gegen Igor Strelkow ein, den damaligen Verteidigungsminister der Rebellenrepublik Donezk.

Strelkow selbst bloggte schon eine Viertelstunde nach dem Absturz einen der zynischsten Sprüche zur Vernichtung der Boeing 777: "Wir haben euch doch gewarnt. Fliegt nicht an unserem Himmel!" Dass er offenbar noch im Glauben war, man habe einen ukrainischen Militärtransporter abgeschossen, unterstreicht nur das Chaos, das der Donbass-Krieg in den Bewusstseinsströmen der Beteiligten angerichtet hat.

Es erscheint absurd: Russland schickt Berufsmilitärs ins Nachbarland, um dort ukrainische Soldaten zu töten, gleichzeitig feilscht es mit den Ukrainern über Gaspreise und importiert ukrainisches Bier, zwischen Moskau und Kiew verkehren weiter Züge und Passagierflugzeuge. Wladimir Putin und sein Team haben sich eine neue Art der Kriegsführung ausgedacht.

Sie verstecken ihre Panzertruppen hinter prorussischen Rebellenkriegern, die das Moskauer Staatsfernsehen mit propagandistischem Dauerbeschuss gegen die "faschistische Kiewer Junta" aufgehetzt hat. Jenseits der ukrainischen Front, in Charkow, Odessa, sogar in Lemberg, gehen Bomben hoch, Kremlpolitologen prophezeien blutiges Chaos in Kiew, das russische Außenministerium aber klagt, die Ukraine boykottiere den Minsker Friedensprozess.

Erstaunlicherweise hat die Ukraine, ebenso der Westen, viele Spielregeln dieses absurden Krieges akzeptiert. Es ist vor allem wirtschaftliche Not, die Kiew weiter mit dem Aggressor verkehren lässt. Doch auch die Ukrainer können schlitzohrig bis zum Zynismus sein: Gut möglich, dass ihre Kampfjets feindliche Panzer aus dem Radarschatten der Boeing 777 angreifen wollten...

In Europa aber fürchten Politiker und Publizisten den endgültigen Bruch mit der Atommacht Russland. Viele dämpften ihre Empörung über die russische Streitmacht im Donbass anfangs. Warum Flugverbot, wenn doch nur Bergarbeiter mit Schulterraketen auf ukrainische Sturzkampfbomber ballern? Das Massaker in 10 100 Meter Höhe hat eine Wolkendecke aus Verharmlosung zerrissen.

Aber nicht endgültig. Weiter neigt ein Großteil der westlichen Kommentatoren dazu, statt russischer Berufssoldaten besagte Bergarbeiter als Mordschützen zu verdächtigen. Nach den Regeln der internationalen Staatsräson wird es leichter, Igor Strelkow oder andere Rebellenbosse vor Gericht zu stellen als Wladimir Putin.

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