Kommentar zur Wahl der Türkei Erdogans Kratzer

Meinung | Bonn · Laut einer Befragung überwiegt in der Wählerschaft die Unzufriedenheit mit der Amtsführung des Präsidenten. Fest steht schon jetzt, dass die Legende Erdogan erhebliche Kratzer abbekommen hat, kommentiert Susanne Güsten.

 Stimmzettel, auf denen auch der türkische Staatspräsident Erdogan (M) abgebildet ist.

Stimmzettel, auf denen auch der türkische Staatspräsident Erdogan (M) abgebildet ist.

Foto: dpa

Zum ersten Mal seit anderthalb Jahrzehnten ist Recep Tayyip Erdogan vor einem Wahltag unter großem Druck – und zwar im Kern seines Erfolges als Politiker. Der 64-Jährige hat seine Karriere und seine wachsende politische Macht in den vergangenen Jahren auf zwei Säulen aufgebaut: Wirtschaftskompetenz und persönliche Glaubwürdigkeit. Beide Säulen wanken.

Mit bestenfalls unüberlegten Äußerungen über die Währungspolitik hat der Präsident die Türkische Lira in den vergangenen Wochen in einen Sturzflug geschickt. Indem er die Unabhängigkeit der Zentralbank offen infrage stellte, stieß er Investoren vor den Kopf, die auf Signale der Stabilität warteten und stattdessen verunsichert wurden.

Die Notenbank stoppte den Absturz mit einer Zinsanhebung gegen Erdogans erklärten Willen, zumindest vorübergehend. Unterdessen bemühte sich Vizepremier Mehmet Simsek um eine Beruhigung der Märkte.

Auch wenn die Hilfsaktion gelang, ist ein Eindruck nicht aus der Welt zu schaffen: Erdogan spielte die Rolle eines unberechenbaren Staatschefs, der von seinen Mitarbeitern eingefangen werden muss.

Gleichzeitig stellt der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince unangenehme Fragen über Erdogans Verhältnis zu dem islamischen Prediger Fethullah Gülen. Erdogan und Gülen waren lange Jahre enge Verbündete – heute nennt Erdogan den in den USA lebenden Geistlichen einen Landesverräter und sagt, er sei lange von Gülen „hinters Licht geführt“ worden. Ince attackiert diesen Erklärungsversuch Erdogans als schwache Ausrede und als Versuch, sich aus seiner Verantwortung zu stehlen.

Der Präsident reagiert, indem er Ince wegen dessen Äußerungen auf Schmerzensgeld verklagt – ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Ausgerechnet in einer Zeit, in der seine Macht dank Ausnahmezustand und Druck auf Andersdenkende größer ist als je zuvor, muss Erdogan kämpfen. Schon spekulieren die Medien über eine Wiederholung der Wahl, falls Erdogans Partei AKP die Parlamentsmehrheit verlieren sollte.

Trotz der Probleme bleibt Erdogan bei Millionen von Türken in der Türkei selbst und in Europa sehr beliebt. Die Loyalität dem Mann gegenüber, der das Land zu Wohlstand gebracht hat und der die Vormundschaft der säkularen und militärischen Eliten beendete, ist nach wie vor groß. Die Frage ist, ob das für Erdogan am Wahltag reicht.

Denn einige Umfragen lassen den Schluss zu, dass sich viele Wähler von ihm abwenden. Laut einer Befragung überwiegt in der Wählerschaft die Unzufriedenheit mit der Amtsführung des Präsidenten.

Ob sich dieser Trend bis zum Wahltag halten wird, ist offen. Fest steht aber schon jetzt, dass die Legende Erdogan erhebliche Kratzer abbekommen hat.

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