Zu Besuch in Gelsdorf Leben, wo künftig die Gummibärchen wohnen

GELSDORF · Auf der Straße nach Süden lohnt es sich, den Blick doch mal vom viel befahrenen, vierspurigen Asphaltband zwischen Köln und Koblenz abzuwenden. Wozu in den Maschinen mancher Fahrzeuglenker auf der A 61 das Navigationsgerät den Anstoß gibt, löst bei mir ein Pfeilwurf aus: Es geht nach Gelsdorf.

Die Stoßdämpfer meines Wagens sind die ersten, die bemerken, dass wir vor wenigen Sekunden die unsichtbare Grenze zu Rheinland-Pfalz überschritten haben. Doch nicht die L 83 zwischen der Autobahnausfahrt Altendorf/Gelsdorf und Grafschaft ist das Ziel meiner Reise, sondern Gelsdorf selbst.

Die Schlaglöcher in der Landesstraße verraten, dass die Idee, die Autobahn zu verlassen und Gelsdorf zu passieren, nicht neu ist. Wegen einer Baustelle verwandelt sich die A 61 gen Süden in diesen Tagen immer wieder in einen schier endlos scheinenden Parkplatz. Doch anders als die Menschen aus Aurich, Memmingen oder dem Erzgebirge, die auf der L 83 nur um ihr schnelles Fortkommen bemüht sind, gehen bei mir die Blinker an und ich biege ins Dorf ab. Reich beschenkt werde ich es wieder verlassen.

Alles, was ich bis vor meinem Pfeilwurf (siehe Kasten rechts) über Gelsdorf wusste, ist seine Nachbarschaft zum mächtigen Autobahnkreuz Meckenheim und zu den Meckenheimer Ortsteilen Altendorf und Ersdorf - schließlich teilen sie sich eine Autobahnausfahrt der A 565. Wer danach links abbiegt, bleibt in Nordrhein-Westfalen, wen es nach rechts zieht, den empfängt das "Willkommen in Rheinland-Pfalz"-Schild. Wobei: Mein Bruder Tobias kennt Gelsdorf. Er leistete seinen Grundwehrdienst im Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr mit Sitz im Gewerbegebiet von Gelsdorf ab.

Dass der zweitgrößte Einzelort der Grafschaft fast in Rufweite zur Bonner Hardthöhe liegt, zeigt die Tatsache, dass in der bis heute mit Stacheldraht umzäumten Liegenschaft einst die zentrale Dienststelle der Bundeswehr zur Analyse und Bewertung der militärischen und politischen Lage außerhalb Deutschlands beheimatet war. Außerdem kam hier die militärische Sicherheitslage unseres Landes auf den Prüfstand. Wer am laut Warntafel "Militärischen Sperrgebiet" seine Blicke schweifen lässt, entdeckt, dass die Kaserne seit Oktober 2009 dem örtlichen NS-Widerstandskämpfer Philipp Freiherr von Boeselager gewidmet ist und jetzt das Kommando Strategische Aufklärung beheimatet.

Bevor mein Auto und ich wegen der Beobachtung der Philipp-Freiherr-von-Boeselager-Kaserne argwöhnisch von militärischer Seite beäugt werden, verlassen wir den Gewebepark, in dem mit Brogsitter - nach eigenen Angaben - das älteste und renommierteste Weingut in Deutschland ansässig ist, und tauchen in den Ortskern ein. Allenthalben gepflegte Häuser fallen mir sogleich ins Auge. Hat jemand verraten, dass ein Zeitungsmann unangemeldet zu Besuch kommt? Haben die Nachrichtensammler der Bundeswehr einen Tipp gegeben und Großreinemachen befohlen? Wohl kaum. Zu vermuten ist vielmehr, dass es hier immer so akkurat aussieht.

Das Auto an der Burgstraße abgestellt, geht es auf die Suche nach einer Burg. Schließlich ist an einer Burgstraße zumindest ein Rittergut zu vermuten - oder wenigstens ein Rest davon. Doch vor der Kastelleroberung fällt mein Blick auf Walburga, Sankt Walburga wohlgemerkt, die Pfarrkirche. Da die Sonne vom blauen Firmament brennt, dürstet es mich nach der Kühle eines Kirchenschiffs und der Ruhe einer leeren Kirchenbank.

Von wegen leer: Küsterin Marlene Prange ist da. Bevor die abendliche Andacht beginnt, müssen noch Vorbereitungen getroffen werden, sagt sie. Ob ich die Sakristei sehen möchte? Ich strebe ihr entgegen, wie ich es einst als Messdiener lernte: nicht laufend, immer andächtig. Hinter dem Altarraum scheint die Zeit ein wenig stehengeblieben. Schöne alte Schränke fallen mir ins Auge und ein Gewand, welches so aussieht, als habe jemand Goldstaub darüber gepustet. Dass die Kirche was Besonderes sein muss, zeigt ein Blick durchs Kirchenschiff: Oben auf der Empore spielt der Organist auf einer Klais-Orgel.

1999 aufwendig restauriert, verrichtet das edle Instrument aus der renommierten Bonner Orgelschmiede seit 1886 kirchenmusikalische Dienste. "Das Werk wird bei sorgfältiger Behandlung auf sehr lange Zeit hin geeignet sein, den Gottesdienst zu einem recht feierlichen und erhabenen zu machen", notierte Seminaroberlehrer Peter Piel am 12. November 1886 in seinem Gutachten fürs Bischöfliche Generalvikariat in Trier. Das Heiligenbildchen eines freundlich winkenden Papst Franziskus fällt mir ins Blickfeld. "Das schenke ich Ihnen", meint Marlene Prange. Die Frage, ob der Messwein in Gelsdorf von Brogsitter stammt, verkneife ich mir. Schließlich wartet eine Burg auf ihren Eroberer.

Schließschachte und Kanonenrohre suche ich an der Burgstraße vergebens. Doch das ist schon alles, was Schloss Gelsdorf fehlt. Der prachtvolle, 1766 erbaute Herrensitz steht an der Stelle, an der um 1220 die Wasserburg der "Herren von Gelsdorf" entstand. Von Andreas Ackermann, seit vier Jahren Ortsvorsteher Gelsdorfs, erfahre ich, dass das Anwesen nicht im Besitztum eines Geldadeligen steht, sondern etwa Arztpraxen und einer Yogaakademie ein repräsentatives Obdach gewährt.

Apropos Obdach: Wenn bald unweit von Gelsdorf die Bagger rollen, um die neue Haribo-Produktionsstätte mit Arbeitsplätzen für mehr als 300 Menschen in die Höhe zu ziehen, möchte Ortsvorsteher Ackermann nicht abseits stehen. "Wenn die kommen, brauchen sie Wohngebiete", sagt der 48 Jahre alte Maschinenbautechniker. "Wir müssen Bauland schaffen."

Damit das für Gelsdorf typische Miteinander erhalten bleibt, und der Ortskern nicht - wie andernorts - langsam ausblutet, möchte Ackermann weiterhin zweigleisig fahren. Heißt: Alte, leerstehende Häuser und Baulücken sollen in neuen Wohnraum verwandelt werden. Ein Gang durch Gelsdorf verrät, dass dies an vielen Stellen bereits gelungen ist, augenscheinliche Leerstände sind an einer Hand abzählbar. "Hier könnte was entstehen", berichtet Ackermann und zeigt auf Grün- und Weideflächen an der Straße "Hinter dem Hage". Wenn alles klappt, könnten hier rund 100 Bauplätze entstehen - im Süden begrenzt durch ein Wäldchen, welches er "unsere grüne Lunge" nennt.

Dass der Zusammenhalt im 1400-Seelen-Ort auch mit Leben gefüllt wird, zeigt etwa der 19. Juni vergangenen Jahres eindrucksvoll. Es ist jener schicksalhafte Tag für die gesamte Region, an dem der Himmel seine Schleusen öffnet und Straßen, Häuser und Keller unter Wasser setzt. "Du müsstest mal kommen", habe der Vater seinem bei den Stadtwerken Bonn tätigen Sohn am Telefon zu verstehen gegeben, wie Andreas Ackermann schildert. Schon zweimal sei die Sirene gegangen, als in der Bundesstadt vom aufziehenden Unwetter noch gar nichts zu spüren war. Da die Feuerwehren überall gleichzeitig im Einsatz waren, haben kurzerhand alle im Ort beim anderen mit angepackt. Darum hält der Ortschef auch nichts von überbordenden Projekten, die dem Charakter Gelsdorfs nicht zu Gesicht stehen.

Beim Verlassen des Ortes entdecke ich einen lebensverändernden Schriftzug: "Ich liebe dich für immer Isa" hat ein Liebender in englischer Sprache und roten Buchstaben geschrieben - an die Wand des Tunnels unter der A 61. Die Blässe der Lettern verrät, dass Isa bald Silberhochzeit feiern müsste.

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