Keine Entspannung in Sicht Türkei warnt vor "Religionskriegen" in Europa

Berlin/Istanbul · Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa sind auf einem Tiefpunkt. Nach Entspannung sieht es nicht aus. Kanzlerin Merkel will die Provokations-Spirale aber nicht mitmachen.

 Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht vor Anhängern in Sakarya.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht vor Anhängern in Sakarya.

Foto: Kayhan Ozer

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzt dagegen auf Deeskalation: "Ich habe nicht die Absicht, mich an diesem Wettlauf der Provokationen zu beteiligen", sagte sie der "Saarbrücker Zeitung".

Als "abwegig" bezeichnete sie insbesondere die jüngsten Vorwürfe des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, sie unterstütze Terroristen der verbotenen Kurden-Partei PKK.

Erdogan warf Europa vor Anhängern im westtürkischen Sakarya vor, "einen Kampf Kreuz gegen Halbmond" angefangen zu haben, nachdem der Europäische Gerichtshof entschieden hatte, dass Kopftücher am Arbeitsplatz unter Umständen verboten werden können. Außenminister Mevlüt Cavusoglu sprach nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstag von "Religionskriegen" in Europa. Ein Jahr nach Abschluss des Flüchtlingspakts mit der EU droht die Türkei zudem mit der Aufkündigung.

Das Abkommen werde neu bewertet, sagte Cavusoglu laut Anadolu am Mittwochabend in einem Interview des Senders 24 TV. Wenn Bedingungen wie die Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger in der EU nicht erfüllt würden, dann könne das Abkommen aufgekündigt werden. Der am 18. März 2016 geschlossene Pakt zwischen Ankara und der EU hat zu einem deutlichen Rückgang des Flüchtlingsstroms nach Europa geführt.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU stecken auch wegen des Streits um Wahlkampfauftritte türkischer Minister in der Krise. Die Türkei stimmt am 16. April in einem Referendum über ein Präsidialsystem ab, das Erdogan mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen würde. Auch türkische Bürger in Deutschland und anderen Ländern sind zur Teilnahme aufgerufen.

Merkel zeigte sich erneut skeptisch zu Auftritten türkischer Politiker, die in Deutschland für das neue Präsidialsystem werben wollen. Es müsse "mit offenem Visier" mitgeteilt werden, "wer da zu welchem Zweck auftritt", verlangte sie. Die Kanzlerin verwies auf die Einschätzung der Venedig-Kommission des Europarates, wonach das Präsidialsystem ein Schritt hin zu einer autokratischen Ordnung sei und das Referendum unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes stattfinde. "Das wiegt schwer", sagte Merkel.

Die Stadt Hannover sagte am Donnerstag den Auftritt eines Vizechefs der Regierungspartei AKP ab, der am Freitagabend dort für die umstrittene türkische Verfassungsreform werben wollen. Zur Begründung hieß es, dass der wahre Charakter der Veranstaltung zunächst nicht genannt worden sei. Außerdem wolle Hannover verhindern, dass der innertürkische Streit in die Stadt hineingetragen wird.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) machte klar: "Türkische Politiker, die unseren Staat, seine Bürger und seine Repräsentanten verunglimpfen oder gar mit Naziparolen beschimpfen, sind auch in Hessen nicht willkommen." Man werde "alle rechtlichen Möglichkeiten nutzen, damit innertürkische Konflikte nicht in Deutschland ausgetragen werden". Auch die Saar-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hatte Auftritte türkischer Politiker in ihrem Bundesland abgelehnt.

Erdogan verbat sich eine Einmischung: "Ich appelliere an diese Europäer. Was geht Euch das Referendum in der Türkei an? Was kümmert es Euch?", sagte er.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz warnte die Türkei: "Unter den gegenwärtigen Umständen ist ein EU-Beitritt völlig ausgeschlossen." Zu den Ausfällen Erdogans sagte er der "Rheinischen Post" (Freitag): "Jeder Regierungschef in Europa sollte ihm klipp und klar sagen, dass er derzeit sämtliche Grenzen überschreitet."

Der türkische Außenminister Cavusoglu hatte zuvor erklärt, Europa werde schon lernen, wie man mit der Türkei umzugehen habe. Ansonsten werde die Türkei es Europa beibringen. "Ihr werdet von Eurem befehlenden Diskurs absehen. Die Türkei befiehlt", sagte er.

Im Fall des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel, der vor mehr als zwei Wochen verhaftet wurde, verwies Erdogan erneut auf die "Unabhängigkeit" der türkischen Gerichte. "Egal, was für ein Staatsbürger er ist. Wer Terror in der Türkei verbreitet und heimlich Spionage betreibt, muss dafür bezahlen", sagte er. Yücel, der die deutsche und türkische Staatsbürgerschaft besitzt, wird Terrorpropaganda und Volksverhetzung vorgeworfen.

Weitere Infos

  • Die enge Zusammenarbeit der EU mit der Türkei in der Flüchtlingspolitik ist neben der Abschottung der Balkanroute ein Grund dafür, dass derzeit vergleichsweise wenige Menschen nach West- und Mitteleuropa kommen. Die EU hat im März 2016 mit der Türkei einen sogenannten Flüchtlingspakt geschlossen. Im Zentrum steht ein Tauschhandel.

Die EU darf demnach alle Schutzsuchenden, die seit dem 20. März 2016 illegal auf die griechischen Inseln übergesetzt sind, in die Türkei zurückschicken. Ausgenommen sind Asylbewerber, die nachweisen können, dass sie in der Türkei verfolgt werden. Für jeden zurückgeschickten Syrer darf seit dem 4. April 2016 ein anderer Syrer aus der Türkei legal und direkt in die EU einreisen.

Das soll Migranten von der Überfahrt nach Griechenland abschrecken und Menschenschmugglern das Handwerk legen. Die EU hat sich bereit erklärt, über diesen Mechanismus bis zu 72 000 Syrer aufzunehmen. Sie hat im Rahmen des Flüchtlingspaktes außerdem drei Milliarden Euro bereitgestellt, damit die Türkei die Lebensbedingungen von geflüchteten Syrern im eigenen Land verbessert. Weitere drei Milliarden Euro hat die EU in Aussicht gestellt.

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