Nach 1871 wurde es „schick“ Liebeserklärung an die Bonner Südstadt

Wer offenen Auges durch die Bonner Südstadt geht, wird überwältigt sein von der Ausstrahlung und der Formenvielfalt der Fassadengestaltungen in diesem gutbürgerlichen Wohnquartier des 19. Jahrhunderts.

 Poppelsdorfer Allee 64-70.

Poppelsdorfer Allee 64-70.

Foto: Kirchlinne

Dies darf nicht verwundern, denn Bonn gehörte mit seinen fast 200 vor dem Ersten Weltkrieg zugewanderten Millionären zu den reichsten Gebieten Preußens. Diese bürgerlichen Bauherren hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts Kirche und Obrigkeit als kulturtragende Schichten abgelöst und sind in der Bau- und Kunstgeschichte eigene Wege gegangen.

Früh, schlicht, klassizistisch

So ersetzte man bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus die prunkvolle barocke Kunst des Ancien Régime bei der Fassadengestaltung durch den Rückgriff auf die weniger verspielte Kunst der Antike. Dementsprechend findet man in den früh bebauten Straßenzügen der Südstadt auffallend schlicht gestaltete Fassaden im klassizistischen Stil.

Diese Fassaden sind - wie das Beispiel aus der Poppelsdorfer Allee verdeutlicht - in Weißtönen gehalten, klar gegliedert und nur wenig stuckverziert. Eine Stuckquaderung oder auch -bänderung, einfache Balken-, Dreiecks- oder Segmentbogenverdachungen der Fenster und Türen und schlichte Säulen sind die bestimmenden Merkmale dieser klassizistischen Fassaden.

Ein interessierter Südstadtbesucher wird jedoch feststellen, dass die Fassadengestaltung des 19. Jahrhunderts nicht beim Klassizismus stehengeblieben ist. Wirtschaftlicher Erfolg und wachsendes Selbstbewusstsein des Besitz- und Bildungsbürgertums führten seit den 1860er Jahren dazu, dass man beim Bau herrschaftlicher Häuser und Villen nach neuen Möglichkeiten suchte, seine Geschichtskenntnisse und sein Repräsentationsbedürfnis öffentlich zu dokumentieren.

Der schlichte klassizistische Formenschatz reichte hierfür jedoch nicht mehr aus. Bei der Suche nach neuen Motiven für eine prunkvollere Gestaltung der Fassaden war das Bürgertum sehr erfinderisch und wurde dabei auch von den Architekten unterstützt.

Prunk im Versatzstück

In deren umfangreichen Musterbüchern hatte man unzählige Motive und Stuckelemente aus allen vergangenen Baustilen zusammengestellt, die von Fertigungsbetrieben als sogenannte Versatzstücke hergestellt wurden. Diese konnten dann vom Stuckateur in die Fassade eingearbeitet werden.

Damit wurde es möglich, dem wachsenden Bewusstsein des Bürgertums für die geschichtliche Vergangenheit gerecht zu werden. Dies belegen nicht nur Fassaden im gotischen und barocken Stil; häufiger noch findet man Fassaden, in denen Elemente mehrerer Baustile in dekorativer Weise zusammengeführt wurden.

Baustile zusammenführen

So wurden zum Beispiel in klassizistische Fassaden auch häufig Motive des Jugendstils oder des Neobarock aufgenommen, wie das Beispiel aus der Heinrich-von-Kleist-Straße zeigt. Hier sind die den Balkon tragenden Konsolen mit drei Männerköpfen des Jugendstils verziert und ein weiterer mit schräg sitzendem Hut schaut von oben aus der Dreiecksverdachung herab. Der Segmentbogen über der Balkoneinheit ist mit einem geflügelten Engel gefüllt, der aus barocken Spiralranken hervorwächst und zwei Wappen mit Initialen und einer Lilie hält.

Stolzer Reichsadler

Nach der Reichsgründung von 1871 wurde es dann „schick“, auch historische Symbole, wie Wappen, Ritterrüstungen, Kronen oder den Reichsadler in die Fassadengestaltung aufzunehmen, wie das Beispiel aus der Luisenstraße erkennen lässt. Während dieser „Stilpluralismus“ nach dem Ersten Weltkrieg verpönt war, schätzen heute Denkmalschützer und Südstadtbürger diese Fassadengestaltungen wieder als ansprechende und unwiederbringliche Zeugnisse einer geschichtlichen Vergangenheit.

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