"1968: Worauf wir stolz sein können" Gretchen Dutschke liest in Sinzig aus neuem Buch

SINZIG · Aus ihrem neuen Buch „1968: Worauf wir stolz sein können“ hat Gretchen Dutschke in Sinzig gelesen. Rund 150 Besucher erlebten die Witwe des Studentenführers Rudi Dutschke in der Alten Druckerei.

 Gretchen Dutschke las aus ihrem neuen Buch.

Gretchen Dutschke las aus ihrem neuen Buch.

Foto: Martin Gausmann

„Genossen, Antiautoritäre, Menschen!“ So, wie Rudi Dutschke 1968 beim legendären Berliner Vietnam-Kongress begann, begrüßte Kulturjournalist Andreas Pecht rund 150 Besucher in der Alten Druckerei zur Lesung mit Gretchen Dutschke am Donnerstagabend. Thomas Zimmermann von der privaten Initiative der Kunstausstellung Ahrtkomm war „stolz und glücklich“ über das volle Haus und den Ehrengast, der sich „unkompliziert“ nach Sinzig bitten ließ. „Im Auge der Rebellion“, so Pecht, habe sie die Zeit als Gefährtin, Frau und später Witwe Rudi Dutschkes erlebt. Die Galionsfigur einer für umfassende Demokratisierung streitenden Studentenbewegung wurde im April 1968 niedergeschossen und starb an Heiligabend 1979 an den Spätfolgen.

Wach und zugewandt erlebte man Gretchen Dutschke, die aus ihrem neuen Buch „1968: Worauf wir stolz sein können“ las. In einem Berliner Café vor polnischen Büchern sitzend, lernte sie ihren Mann kennen. Kam er aus Polen? „Nein, aber ich lerne Polnisch, damit ich die Bücher im Original lesen kann“, kam die Antwort. Welche Parallele, war doch die amerikanische Philosophie-Studentin zum Deutschlernen nach Deutschland gekommen, um die deutschen Denker zu verstehen. Sie nannte es „Liebe auf den ersten Blick“. Er, der Revolutionär, wollte keine so enge Beziehung, stellte ihr aber schließlich frei, wieder zu ihm zu kommen.

Der „gefährliche Pazifist“ durfte als überzeugter Christ in der DDR nicht studieren und ging daher nach West-Berlin. Die Autorin erwähnte Herbert Marcuses für die Bewegung wichtige Gesellschaftskritik. Sie gab Einblick in eine 200-Leute-Demo gegen den Vietnamkrieg Ende 1966, „eine Art Happening“ von SDSlern, Kommunarden und der von Rudi mitbegründeten Viva-Maria-Gruppe. Ein Plakat spöttelte „Spießer aller Länder vereinigt Euch“. Dazu sang man „Ihr Kinderlein kommet“ und skandierte „Weihnachtswünsche werden wahr, Bomben made in USA“. Auf die gegen Amerika und die DDR gerichtete Provokation hin verhaftete die Polizei sogar Kinder, Touristen und Passanten.

Was die Emanzipation der Geschlechter anging, blieb es in den linken Kreisen bei der tradierten Rollenverteilung: Frauen sollten nicht zu viel dazwischenreden, „während die Genossen eine rauchten und sich über wichtige Bücher beugten“. Doch der revolutionäre Impuls habe die überkommene Autorität erschüttert. „Die grenzenlose Freiheit heute wäre ohne die 68er nicht denkbar“, ist Dutschke überzeugt.

Heutige Probleme seien Klima, Umwelt, wachsende Gewalt. Im Gespräch mit Pecht kam als Verdienst auch die Aufarbeitung der Nazizeit zur Sprache. Und die Gewalt damals in der antiautoritären Bewegung nach dem Besuch des Schahs und der Ermordung Benno Ohnesorgs? Das und die Presse hätten Hass erzeugt. Für Rudi sei Gewalt gegen Sachen in Ordnung gewesen, nicht aber gegen Menschen. Er war auch gegen den Kampf im Untergrund, den die RAF praktizierte, versuchte erfolglos, Ulrike Meinhof und Horst Mahler davon zu überzeugen.

Für die jüngere Generation hat laut Künstler Kay Michelt, der aufs Podium hinzukam, die 68er-Bewegung „die Patina vorvorletzter Elterngeneration“, zudem würden die 68er „romantisiert“. Dutschke hielt dagegen: „Es ist eine Tradition, die man sehen soll, an die man anknüpfen kann.“ Michelt nannte zugleich die aktuell Jungen „die angepassteste Generation seit 68“. Er nannte aber auch großes Engagement in den sozialen Medien. Vom Publikum wurde Dutschke gefragt, wie heute zu rebellieren sei, worauf sie schlicht riet, sich zusammenzuschließen. Mehr Anwesende meldeten sich zu Wort, um eigene Positionen zu formulieren. In Erinnerung wird wohl Dutschkes ernster Appell bleiben: „Wenn die jungen Leute jetzt nicht kämpfen, geht die Welt zugrunde.“

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