Vernetzung Die Welt ist kein Dorf

Bonn · Die Weltgesellschaft ist ein Mythos und die Globalisierung keine Einbahnstraße. Aber gut vernetzte Länder sind nachweislich besonders erfolgreich.

Spundwände, Sackkarren, Möwengeschrei und der Duft der weiten Welt, dazu fragwürdige Spelunken und Freudenhäuser. In Liedern und Romanen prägten diese Attribute manches romantisch verklärte Bild einer eigenen Welt in den großen Überseehäfen. Falls es diese Welt so jemals gegeben hat, dann geht sie am 6. Mai 1966 in Deutschland jedenfalls definitiv zu Ende.

An diesem Freitag setzt zwischen Schuppen 16 und 18 im Bremer Überseehafen die Besatzung des US-Spezialfrachters "Fairland" mit zwei eigenen Kränen die ersten Standardcontainer auf die Kaje. "In zwei Schichten über 100 Container entladen", titelt die Lokalzeitung tags darauf - aber erst auf Seite 9. Der Reporter staunt über 18 000 Hähnchen, die in nur einem "Großbehälter" aus Virginia tiefgekühlt über den Atlantik gereist sind. Die Tragweite des Augenblicks ist ihm und den übrigen Schaulustigen nicht bewusst.

Heute wissen wir es besser: 27,5 Millionen Standardcontainer in aller Welt sind das Rückgrat der globalisierten Wirtschaftslogistik. Die Einführung genormter Boxen für den Transport auf Schiene, Straße oder dem Wasserweg war für die Vernetzung der Welt insgesamt ein zentraler Moment. Die Digitalisierung der Kommunikationsnetze wiederum hat vor wenigen Jahren einen zeitgleichen, massenhaften Datenaustausch in alle Winkel der Erde ermöglicht. Das anhaltende Wachstum der Weltbevölkerung geht einher mit Wanderungsbewegungen über Staatsgrenzen und ganze Kontinente hinweg. Die Welt ist erkennbar zusammengerückt. Aber leben wir tatsächlich schon im globalen Dorf - und wollen wir das überhaupt?

Gut ein halbes Jahrhundert nach der Anlandung der ersten Container in Deutschland erscheint die Globalisierung aus der Rückschau organisch gewachsen und unumkehrbar. Tatsächlich ist sie jedoch in ganz erheblichem Umfang auch das Ergebnis politischer Entscheidungen. Die gewollte Integration Westeuropas nach 1945 und die weltweite Liberalisierung von Waren- und Kapitalverkehr seit den 1970ern haben die Globalisierung erst möglich gemacht.

Im Umkehrschluss bleibt die Integration der Welt damit auch für die Zukunft dem Handeln der beteiligten Staaten beziehungsweise ihrer Regierungen und Eliten unterworfen. Protektionistische Tendenzen, wie sie sich im Brexit äußern oder in der Kündigung des transpazifischen Handelsabkommens TPP durch die US-Regierung, geldpolitische Experimente der staatlichen Zentralbanken oder der weltweite Terrorismus können ihre Entwicklung hemmen oder gar umkehren.

"Die Zukunft der Globalisierung ist mit so großen Unsicherheiten behaftet wie lange nicht mehr. Sie hängt vor allem davon ab, welche Weichen die politischen Entscheider in aller Welt stellen", urteilen Professor Pankaj Ghemawat und Steven A. Altman von der Stern School of Business der New York University. Die beiden Wissenschaftler haben im Auftrag der Deutsche Post DHL Group 1,8 Millionen Datenpunkte aus 140 Ländern zum internationalen Handels-, Kapital-, Informations- und Personenaustausch verarbeitet und daraus den DHL Global Connectedness Index (GCI) 2016 berechnet.

Austausch von Informationen hat zugenommen

Ihr aktuelles Fazit: Vor allem der grenzüberschreitende Austausch von Informationen hat sich von 2005 bis 2015 um rund 70 Prozent erhöht und damit die wahrgenommene Globalisierung vertieft. Auch die Wanderung von Menschen hat zugenommen - beispielsweise durch Arbeitsmigration oder durch Flucht. Der Kapitalfluss unterlag starken Schwankungen, weist aber insgesamt nach oben. Der Anteil grenzüberschreitend gehandelter Waren stagniert hingegen tendenziell und entwickelte sich zuletzt sogar negativ. Überraschende Erkenntnis der Studie: Der tatsächliche Grad der globalen Vernetzung wird von den meisten Menschen immer noch massiv überschätzt.

Das zeigt sich besonders gut in der Detailauswertung: Zwar kann sich heute jeder Bonner bequem und praktisch kostenfrei per Videochat mit einem Menschen in Burkina Faso, Malaysia oder auf Spitzbergen unterhalten. Aber die wenigsten tun es. Entfernungen spielen immer noch eine markante Rolle - selbst online. Das hat mit Zeitzonen, Sprachbarrieren, kulturellen und gesellschaftlichen Unterschieden und anderen Umständen zu tun. Die meisten grenzüberschreitenden Beziehungen finden innerhalb der Weltregionen statt.

Man bestellt eher ein Ferienhaus in Domburg, als sich in Tansania nach dem Ergebnis der Hirse-Ernte zu erkundigen. Das gilt auch für Deutschland insgesamt: Bei allen Komponenten des Index mit Ausnahme von Migranten und internationalen Studenten konzentriert sich Deutschlands internationaler Austausch zu mindestens zwei Dritteln auf Europa, ergab die Studie. Das globale Dorf ist noch kaum mehr als eine Vision.

Wie global vernetzt ist ein Land?

Es gibt Länder, die die Vernetzung deutlich weiter treiben als andere. Wie global vernetzt ein Land ist, das hängt sowohl vom Ausmaß seiner grenzüberschreitenden Interaktionen im Verhältnis zur Größe seiner Binnenwirtschaft ab als auch von der globalen Verteilung seiner internationalen Interaktionen. Die Niederlande sind Globalisierungs-Spitzenreiter und führen das Länderranking des GCI seit Jahren an. Das liegt nicht nur an der verhältnismäßig geringen Größe des Landes, sondern auch an seiner Rolle als bedeutende Handelsdrehscheibe. Der Seehafen in Rotterdam zählt zu den zehn größten weltweit. Hier weiß man seit Jahrhunderten, dass einem kleinen Player im Weltgeschehen nur der Austausch von Waren, Dienstleistungen und Ideen langfristig Erfolg sichert.

Westeuropa insgesamt hat mit dem Europäischen Binnenmarkt, der Arbeitnehmerfreizügigkeit und wachsender Integration in zahlreichen Politikfeldern ein Höchstmaß an Vernetzung erreicht. So finden sich neben den Niederlanden auch Irland, die Schweiz, Luxemburg, Belgien, Deutschland, Großbritannien und Dänemark in dieser Reihenfolge auf vorderen Plätzen. Außerhalb Europas sind nur Singapur (Platz 2) und die Vereinigten Arabischen Emirate (Platz 10) vergleichbar stark vernetzt.

Ein hohes Maß an Vernetzung ermöglicht ganz offensichtlich einen hohen Leistungs- und Lebensstandard. Zwar trieben Schwellenländer wie Brasilien, Indien oder China ebenso viel Handel wie die Spitzengruppe. "Die Einbindung der Industrieländer in die internationalen Kapital-, Personen- und Informationsströme ist aber vier bis neun Mal so intensiv wie die der Schwellenländer", erläutert Pankaj Ghemawat, ein international anerkannter Globalisierungsexperte. Nicht Handel allein bringt demnach Wandel, sondern vor allem der Wechsel von Menschen, Ideen, Wissen und Meinungen über Grenzen hinweg.

Streben nach Verbesserung

Kritiker geben zu bedenken, die Globalisierung nutze keineswegs allen, ja der Wohlstand der Erfolgreichsten gehe im Gegenteil zulasten der Ärmsten. In vielen benachteiligten Regionen der Welt werden Rohstoffe ohne Rücksicht auf den Erhalt regionaler Ressourcen gefördert. Menschen in Bangladesch oder Myanmar nähen für Niedriglöhne die Kollektionen westlicher Mode-Labels. Und die Arbeiter, die Smartphones zusammenfügen, haben selbst oft kein Internet. Das sind alles Tatsachen.

Andererseits liegt die Lebenserwartung heute selbst in den ärmsten Ländern höher als in Europa vor 100 Jahren. Die Kalorienzufuhr stieg weltweit von 1950 bis 2010 von 2200 auf 3000. Und während vor 60 Jahren nur in Europa, Nordamerika und Australien Kinder mindestens vier bis sechs Jahre zur Schule gingen, so liegen heute nur noch Mali, Niger und Mosambik darunter. Von ungefähr kommt das nicht, sondern daher, dass mehr Menschen in einer globaleren Welt ihre Lebenswirklichkeit mit der anderer vergleichen, nach Verbesserungen streben und Chancen wahrnehmen, die sie vorher nicht hatten.

So ist ein Treiber der Fluchtbewegungen in den letzten Jahren mit Sicherheit auch die weltweite Informationsdichte. Optionen tun sich auf, die es früher nicht gegeben hat. Das drängt auch die wohlhabenden Industrieländer zum Umdenken. Staaten, die nicht zum Ziel riesiger Migrationswellen werden möchten, müssen mit Rat und Hilfe und dem Drängen zu gutem Regieren auf bessere Lebensbedingungen in den Heimatländern hinwirken. Während regionale Besonderheiten sich mithin überraschend langlebig zeigen, bringt die Globalisierung nicht nur tiefgefrorene Brathähnchen aus Virginia wie 1966 im Bremer Überseehafen. Wenn Gesellschaften sich öffnen und vernetzen, kann die Globalisierung auch ökonomisch, sozial und gesellschaftlich denen helfen, die bisher nur in zweiter Reihe standen.

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