Der Knacks als Chance

Roger Willemsen plaudert, liest und schreibt über Gott und die Welt. Sein Buch „Der Knacks“ lieferte die Vorlage für ein von Jan Müller-Wieland zum Beethovenfest komponiertes Melodram, das am 29. September in den Kammerspielen uraufgeführt wird. Mit Willemsen sprach Gunild Lohmann.

 Roger Willemsen wurde 1955 in Bonn geboren. Nach einer Karriere als Fernsehmoderator ist er heute überwiegend als Autor aktiv. Willemsen engagiert sich für die Afghanistan-Kampagne „Helfen steckt an”.

Roger Willemsen wurde 1955 in Bonn geboren. Nach einer Karriere als Fernsehmoderator ist er heute überwiegend als Autor aktiv. Willemsen engagiert sich für die Afghanistan-Kampagne „Helfen steckt an”.

Foto: PA / dpa

GA: Was ist der „Knacks“? Gibt es eine kurze Definition?

Willemsen: Nein, die gibt es nicht. Zum einen ist der Knacks die Stelle, an der das Leben seine Richtung wechselt, an der eine prägende Erfahrung einsetzt. Und seine zweite Bestimmung ist die des Ausbleichens, der Materialermüdung, des Gefühls, es ist nichts mehr, wie es mal war – also diese schleichenden Veränderungen in unserem Leben, die wir auf kein Datum festlegen können.

GA: Und vor diesem Ermüdungsbruch ist niemand gefeit?

Willemsen: Nein, auch Sie haben ihn gerade, ich kann’s nicht ändern. Irgendwo gibt es immer diesen Moment der Enttäuschung oder der Resignation. Ich stehe manchmal auf der Bühne und sehe im Saal Bitterkeit, Melancholie und die Frage, warum alle Konjunktive plötzlich zu ziemlich fahlen Indikativen geworden sind. Warum bin ich nicht das geworden, was ich wollte? Ich muss fairerweise sagen, dass F. Scott Fitzgerald dieses Phänomen als erster beschrieben hat, in seiner Novelle „The Crack-Up“, was man auch mit „Der Knacks“ übersetzen würde.

GA: Wie autobiografisch ist das Buch?

Willemsen: Das muss sehr autobiografisch sein. Es wäre verlogen, über Brüche und über Trauer zu schreiben und sich selber dabei rausziehen zu wollen. Der Wahrhaftigkeitsanspruch darf vor der eigenen Person nicht haltmachen.

GA: Ihr erster Knacks war der Tod ihres Vaters.

Willemsen: Ja, im doppelten Sinne: Nicht allein, dass mein Vater gestorben ist, sondern auch, dass er zwei Jahre lang gestorben ist, in einer Zeit, als ich mein eigenes Wachstum erlebte und jedes Moment der persönlichen Expansion und Entwicklung, auch des sexuellen Erwachens immer kontaminiert wurde von den Bildern eines Todkranken, der von einem stattlichen Patriarchen zu einem obdachlosen, unbehausten, dünnen Mann wurde. Ich war ja auch eine Enttäuschung für ihn in dieser Zeit, der größte Verlierer, der man hätte sein können. Mein Vater hat zu uns Kindern immer gesagt, ihr landet alle drei an der Tankstelle.

GA: Gehört das Verlierer-Gefühl nicht zum Erwachsenwerden dazu?

Willemsen: Mag sein. Aber in der Schule hängen zu bleiben, lange Haare zu haben, bei kleinkriminellen Delikten erwischt zu werden – das war nicht nur ein Gefühl.

GA: Ist der Knacks auch eine Chance?

Willemsen: Natürlich. Man könnte sogar sagen: Das am dramatischsten gescheiterte Leben wäre eines, das ganz ohne den Knacks ausgekommen ist – wo soll denn dann Reife herkommen?

GA: Wie ist aus dem „Knacks“, einer Sammlung von Aphorismen, kurzen Szenen und Dialogen ein Melodram für das Beethovenfest geworden?

Willemsen: Ich habe mit dem Ensemble Resonanz schon mehrfach zusammengearbeitet. Das sind wahre Enthusiasten, und Jan Müller-Wieland schätze ich außerordentlich. Das ist erstens ein wirklich feiner Kerl, zweitens ist er ein profund gebildeter und ein sehr vielseitig beobachtender Mensch, der viele literarische Seiten hat – er hat die Texte ausgesucht und mich nur gefragt, ob ich mit seiner Auswahl einverstanden bin. Er hat mich verblüfft: Während ich als musikalischer Laie Passagen ausgesucht hätte, die vielleicht besonders atmosphärisch oder lyrisch sind, hat er sehr disparate und inhomogene Texte genommen. Zum Beispiel einen Guantanamo-Text, ein politisches Protokoll, neben einer Impression oder einem Geständnis. Dadurch ist auch das Libretto polyperspektivisch, es hat so viele Facetten wie eine kubistische Plastik: Egal, wo man steht, man sieht sie immer wieder anders.

GA: Musikalische Lesungen sind ein bisschen Ihr Markenzeichen. Woher rührt das Interesse, Sprache und Musik in immer neuen Konstellationen zusammenzubringen?

Willemsen: Ich habe in meiner Bonner Jugend einmal in einem Ensemble für experimentelle Musik gearbeitet – was ich als eine höhere Form des Dilettierens bezeichnen würde. . .

GA: Was haben Sie da gemacht?

Willemsen: Vibraphon gespielt. Und ich habe mit 17 mal eine Komposition geschrieben, die hieß „Anna Livia Plurabelle“, nach einem Kapitel aus dem Joyce-Roman „Finnegan’s Wake“, das haben wir im Bonn-Center aufgeführt, und ich bekam einen Preis für das beste Stück eines Nachwuchskomponisten. Das war nur eine grafische Partitur mit Band, und dazu habe ich auf der Bühne noch so eine diffuse Pantomime aufgeführt Aber in der zweiten Hälfte des Abends spielte Friedrich Gulda – da fühlte ich mich irrsinnig geehrt.

GA: Das hat ihr Vater nicht mehr erlebt.

Willemsen: Nein, leider nicht.

Konzert-TippJan Müller-Wielands Melodram „Der Knacks“ nach Texten von Roger Willemsen wird am Mittwoch, 29. September, 20 Uhr, in den Kammerspielen Bad Godesberg uraufgeführt. Mitwirkende sind das Ensemble Resonanz, Roger Willemsen, Sprecher, Jan Müller-Wieland, Dirigent. Müller-Wieland und Willemsen führen im Rahmen der Reihe “Ganz Ohr um Halb„

Um 19 Uhr gemeinsam in das Werk ein.

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