Lieber Haft als Tod Das Dilemma der Flüchtlinge Mittelamerikas

Mexiko-Stadt · In der Heimat droht Gewalt, im Norden Haft und Abschiebung - die Migranten aus mittelamerikanischen Ländern, die in den USA Schutz suchen wollen, befinden sich in einem Dilemma. Oft wählen sie den illegalen Grenzübertritt als kleineres Übel, auch mit ihren Kindern.

 Warten aufs gelobte Land: Ein haitianischer Flüchtling hat sich über Brasilien bis nach Mexiko vorgearbeitet. Ziel: die USA.

Warten aufs gelobte Land: Ein haitianischer Flüchtling hat sich über Brasilien bis nach Mexiko vorgearbeitet. Ziel: die USA.

Foto: Alejandro Zepeda/EFE

Im März beschloss die 40-Jährige, El Salvador mit ihren drei Kindern zu verlassen. Dass ihr in den USA Haft droht, macht ihr keine Angst. "Alles ist besser als in dieses Land des Todes zurückzugehen", sagt die Frau, die nun in einem Auffanglager im mexikanischen Tijuana sitzt.

Auf dem Schoß hält sie ihren zehn Monate alten Sohn. Die Null-Toleranz-Politik an der US-Grenze und deren Konsequenzen ist auch in den Notunterkünften im Norden des lateinamerikanischen Landes bekannt. Die Salvadorianerin will den Grenzübertritt aber trotzdem wagen.

In El Salvador sei sie von Mitgliedern der Jugendbande Maras bedroht worden, erklärt die Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte. "Es gab Drohungen gegen meine Kinder." Ein Mitglied der Mara 18 habe sie sexuell missbraucht. Als sie keinen Ausweg mehr sah, habe sie dem jüngsten Kind einen Pass besorgt und sich auf den Weg in Richtung USA gemacht. Die mächtigen Banden sind in Drogenhandel und Schutzgelderpressung verwickelt und beherrschen ganze Stadtviertel. Nach offiziellen Statistiken haben die Gangs mehr als 100.000 Mitglieder in ihren Reihen.

"Wir konnten nirgends hin in El Salvador, sie hätten uns gefunden, sie haben überall Kontakte", sagt sie. Die Haft wegen des illegalen Übertritts in die USA sei das kleinere Übel. Sie gehe mit der Hoffnung, dass sie ihre Kinder bei sich behalten könne.

Für Juan Ramon Toldeo ist diese Hoffnung für immer zerstört. Der 62-Jährige ist Direktor der Allianz der Rückkehrer (ALSERE). Er wurde 2014 nach mehr als 20 Jahren in den USA deportiert und hilft nun anderen Rückkehrern, ein Leben in El Salvador aufzubauen. Seine bereits erwachsenen Kinder leben immer noch in den USA.

Er kennt das Dilemma, in dem sich die Menschen aus dem mittelamerikanischen Land befinden. "Mein Rat ist im Moment: Geht nicht über die Grenze. Aber hier in El Salvador können sie auch nicht bleiben", sagt Toldeo. Es gebe dort keine Möglichkeiten für ein gutes Leben. "Die Banden rekrutieren die Kinder von den Straßen, in den Schulen."

Die Menschen, die sich auf den Weg in die USA machen, kennen die Risiken, wie Toldeo sagt. "Aber es kümmert sie nicht." Dass Flüchtlinge Kinder benutzen, um schneller über die Grenze zu kommen, glaube er nicht. Auch im Auffanglager in Tijuana erklären die Migranten, solche Fälle bei ihren Reisen nicht erlebt zu haben. "Was sollen wir denn machen?", fragt eine Frau. "Die Kinder zurücklassen? Es ist zu gefährlich in den Ländern." Alle hofften, in den USA die Möglichkeit zu bekommen, als Flüchtling anerkannt zu werden.

Ende 2017 waren weltweit 294 000 Menschen aus der Region als Flüchtlinge registriert, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) im Mai mitteilte. In den ersten drei Monaten des Jahres 2018 stammten nach Angaben der US-Immigrationsbehörde die meisten der Menschen, die in den USA als Flüchtling anerkannt werden möchten, aus El Salvador, Honduras und Guatemala - nur von venezolanischen Staatsbürgern wurden in dem Zeitraum noch mehr Anträge eingereicht.

Honduras gilt wegen der starken Präsenz der Jugendbanden als einer der gefährlichsten Staaten der Welt. Zudem prägen Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Armut das Leben vieler Honduraner. 60,9 Prozent der Menschen gelten als arm, 38,4 Prozent der Bevölkerung leben sogar in extremer Armut. Viele Familien sehen nur die Flucht als Ausweg.

Dass die derzeit in den USA getrennten Familien jedoch schnell wieder zusammengeführt werden, bezweifelt Israel Concha. "Gegen die Eltern laufen Verfahren, es wird Monate dauern, bis sie wieder zusammenkommen", sagt Concha, der in Mexiko-Stadt die Organisation "New Comienzos" für Deportierte ins Leben gerufen hat. Mit der derzeitigen US-Grenzpolitik blieben die Migranten in Mexiko hängen - einem Land mit einer Rekordzahl an Morden und weiteren Gewaltverbrechen, so Concha.

Die Gewalt in den Ländern Honduras, Guatemala und El Salvador sei aber noch schlimmer. "Die Migranten haben Traumata wie aus einem Krieg", erklärt Concha. Im Moment sei es aber nicht die beste Idee, die Grenze zu den USA zu übertreten. Er rät allen Durchreisenden, sich über die Konsequenzen genau zu informieren, bevor sie den Schritt wagen.

"Unsere medizinischen Teams sehen immer mehr Menschen, die in Mexiko fest sitzen. Sie können weder in die Länder zurückkehren, aus denen sie geflohen sind, noch können sie in die USA fliehen, da die US-Regierung mit immer brutaleren Methoden jeden bestraft, der versucht, die Grenze zu überqueren", sagt Marc Bosch, Projektverantwortlicher von Ärzte ohne Grenzen für Lateinamerika. Hinzu komme die Entscheidung der USA, sexuelle Gewalt oder Bandenkriminalität nicht mehr als Fluchtgründe zu akzeptieren, so Bosch in einer Mitteilung der Organisation.

Die Frau im Lager in Tijuana aus El Salvador und ihre Familie haben sich drei Monate lang ihren Weg in Etappen in Richtung US-Grenze gebahnt. "Wir haben in Herbergen und Kirchen geschlafen", sagt die 40-Jährige. In Mexiko zu bleiben sei keine Option. "Wir haben Angst." Sie wolle nicht mehr unter dem Einfluss krimineller Banden leben, sagt sie. In den kommenden Tagen will sie über die Grenze gehen.

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