Analyse: Immer wieder das V-Wort

Berlin/Istanbul · Man kann, wenn man im Bundestag auf der Regierungsbank sitzt, alles Mögliche tun. Akten lesen oder die Zeitung. Smartphone checken, ein Schwätzchen halten oder sogar ein Nickerchen machen. Alles schon gehabt. Zuhören muss man jedenfalls nicht. Am Freitag, in der ersten Beratung über die umstrittene "Völkermord"-Erklärung des Bundestags zu den Massakern an bis zu 1,5 Millionen Armeniern vor 100 Jahren, war das jedoch ziemlich anders.

 Armenische Demonstranten vor dem Reichstag in Berlin. Foto: Stephanie Pilick

Armenische Demonstranten vor dem Reichstag in Berlin. Foto: Stephanie Pilick

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Zwar meldeten sich weder Kanzlerin Angela Merkel noch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und auch kein anderes Kabinettsmitglied zu Wort. Aber so aufmerksam wie in diesen eineinviertel Stunden war die Regierungsbank selten. Es hat sich gelohnt: Die Debatte war eine von denen, die von der 18. Legislaturperiode des deutschen Parlaments vielleicht in Erinnerung bleiben.

Zuvor war es wochenlang um die Frage gegangen, ob der Bundestag die Massaker, die am 24. April 1915 im Osmanischen Reich ihren Ausgang nahmen, überhaupt als Völkermord qualifizieren darf. Bislang gab es von offizieller deutscher Seite eine solche Einschätzung nicht - was zuletzt vor allem daran lag, dass die Bundesrepublik den Nato-Partner Türkei nicht vergrätzen wollte. Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs lehnt die Bezeichnung Völkermord vehement ab.

Am Freitag fiel das V-Wort jedoch ständig. Jeder einzelne Redner spricht von Völkermord - angefangen bei Bundestagspräsident Norbert Lammert. "Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord." Der CDU-Politiker bekannte sich auch zur deutschen Mitverantwortung. Das Deutsche Kaiserreich war damals enger Verbündeter des Osmanischen Reichs.

Ähnlich klar hatte sich am Abend zuvor schon Bundespräsident Joachim Gauck geäußert. Gauck wie Lammert bekamen am Freitag dafür viel Lob. Und auch sonst wurde deutlich, wie ernst es den Abgeordneten, über die Parteigrenzen hinweg, mit der Sache ist. Die Erklärung, auf die sich die Spitzen der drei Koalitionsparteien in langen Beratungen mit der Bundesregierung geeinigt hatten, ist vielen noch arg verdruckst.

In dem Papier wird das Schicksal der Armenier zwar als beispielhaft bezeichnet für die "Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist". Das ist um einiges weniger als bei Lammert oder Gauck, wie nicht nur die Opposition findet. Die Linke-Abgeordnete Ulla Jelpke verlangte, mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan endlich "Klartext" zu reden. "Dieses Versteckspiel hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten ist beschämend."

Grünen-Chef Cem Özdemir sagte: "Wir sind es den Opfern schuldig, dass niemand ausgelassen wird und alles beim Namen genannt wird." Am Revers trug der türkischstämmige Politiker dazu eine Brosche, die zur Erinnerung an die ermordeten Armenier ein Vergissmeinnicht zeigt. Aber auch in der Koalition hoffen einige darauf, dass die Erklärung in den Ausschüssen verschärft wird, bevor sie verabschiedet wird. So viel Einigkeit wie nun zum Beispiel zwischen Özdemir und der CDU-Abgeordneten Erika Steinbach war nur selten.

Von Merkel oder Steinmeier hört man das V-Wort allerdings immer noch nicht. Die Bundesregierung verweist jetzt stets auf die Formulierung, die mit den Koalitionsparteien gefunden wurde. Offiziell begründet wird dies damit, dass die Aussöhnung zwischen Türkei und Armenien durch den Streit ums Vokabular nicht noch erschwert werden solle.

Nach den klaren Aussagen im Bundestag und vor allem von Gauck dauerte es nicht lange, bis die befürchtete diplomatische Krise mit Ankara dann auch tatsächlich ausbrach. "Das türkische Volk wird dem deutschen Präsidenten Gauck seine Aussagen nicht vergessen und nicht verzeihen", ließ das türkische Außenministerium in einer wenig diplomatisch klingenden Mitteilung verlauten. Gauck habe keinerlei Befugnis, der türkischen Nation eine Schuld anzulasten, die den rechtlichen und historischen Fakten widerspreche.

Das sind drastische Worte für einen Nato-Bündnispartner wie die Türkei. In der Realität sind die Beziehungen zwischen Ankara und dem Westen allerdings schon lange frostig. Besonders Erdogan hatte in den vergangenen Tagen dünnhäutig reagiert, wenn von Völkermord die Rede war. Papst Franziskus warf er vor, "Unsinn" zu reden. Am Freitag sprach er den Nachfahren der getöteten Armenier sein Beileid aus und versicherte, er teile ihren Schmerz. Von Völkermord sprach Erdogan natürlich nicht - er nannte die Gräueltaten "traurige Ereignisse".

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