Schäuble:Pessimismus dominiert 28 Jahre Einheit: Deutschland hat Redebedarf

Berlin · Ost und West sind seit 28 Jahren wieder ein Deutschland. Doch bis heute ist das Zusammenwachsen nicht einfach. Und manche fragen sich: Wie soll es eigentlich weitergehen?

 Berliner Anwohner haben am Einheitstag ein Transparent mit der Aufschrift "Deutschland ohne Nazis" am Rande einer rechtspopulistischen Demonstration an einem Balkon befestigt.

Berliner Anwohner haben am Einheitstag ein Transparent mit der Aufschrift "Deutschland ohne Nazis" am Rande einer rechtspopulistischen Demonstration an einem Balkon befestigt.

Foto: Michael Kappeler

Das Volk macht sich rar. Es sind nicht viele Menschen, die zum Tag der Deutschen Einheit hinter rot-weißen Absperrgittern am Berliner Dom warten. Metallzäune und Polizeiwagen blockieren Straßen, Scharfschützen sind postiert, Touristen suchen einen Weg. Die Innenstadt wie leer gefegt.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) schüttelt über die Gitter hinweg ein paar Hände, sagt "Hallo" und "Welcome". Offiziell heißt das im Programm "Begegnung mit der Bevölkerung".

Aber "die Bevölkerung", was bedeutet das eigentlich in diesen Tagen? 28 Jahre nach der Wiedervereinigung diskutieren Menschen in Deutschland, wie es steht um dieses Land. Noch immer ist von "Ossis" und "Wessis" die Rede. Und auch wenn der Unterschied zumindest für Jüngere nicht mehr so wichtig ist, brechen neue Konflikte auf. "Die da oben" und "Wir hier unten" zum Beispiel.

Oder der Streit, wie viele Menschen aus dem Ausland Deutschland aufnehmen kann. Mit dem Einheitsfest unter dem Motto "Nur mit Euch" solle auch ein Zeichen gegen diejenigen gesetzt werden, die bewusst einen Keil in die Gesellschaft treiben wollten, sagt Berlins Regierender Bürgermeister und Bundesratspräsident Michael Müller (SPD). Für ihn ist der 3. Oktober auch ein Tag der Mahnung - gegen Hass und Ausgrenzung.

Denn trotz gut gefüllter Festmeile am Brandenburger Tor sind die nachdenklichen Töne an diesem Einheitstag nicht zu überhören. "Deutschland ist noch etwas gespalten, wir tun uns schwer mit Veränderungen, das dauert noch zwei Generationen", sagt die 32-jährige Gianna Rizzo aus Ulm. Ein Rentnerpaar aus dem brandenburgischen Eberswalde meint unisono: "Für uns ist die Welt größer geworden mit der Einheit."

Doch die rechten Demos in Köthen und Chemnitz, die Stimmung gegen Ausländer - "das ist traurig, das belastet meine Seele", sagt eine 77-Jährige, die ihren Namen nicht nennen möchte. "Das darf nicht sein." Die 33-jährige Franziska aus Berlin sagt dazu: "Was sich da abgespielt hat, ist mir peinlich für Deutschland."

Auch Merkel warnte nach den fremdenfeindlichen Protesten in Chemnitz vor rechter Hetze. In der sächsischen Stadt war es nach der tödlichen Messerattacke auf einen Deutschen zu Demos von Rechtsgerichteten, Neonazis, Gegnern der Flüchtlingspolitik und Gegenprotesten gekommen.

Die Kanzlerin drängt sich an diesem Mittwoch nicht in den Mittelpunkt, nur am Rande des Festakts in der prächtig sanierten Staatsoper Unter den Linden gibt sie ein knappes Statement für Journalisten. Die Einheit sei ein langer Weg. "Einander zuzuhören, aufeinander zuzugehen, nicht nachzulassen" - das sei wichtig.

Darauf kommt auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) beim Festakt zu sprechen. Er warnt, Minderheiten und Volksvertreter zum Feindbild zu machen. Obwohl es Deutschland gut gehe, dominiere der Pessimismus. Hilfe für Flüchtlinge und andere Migranten sei wichtig und richtig, aber nicht unbegrenzt möglich. Deshalb müsse man lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben. "Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur."

Schäuble, der 1990 den Einheitsvertrag mit unterschrieb, gibt mit auf den Weg: "Selbstvertrauen, Gelassenheit, Zuversicht" bildeten den "Dreiklang eines zeitgemäßen Patriotismus". Auf einer Leinwand werden Bilder aus der Hauptstadt gezeigt: Ein schwuler Friseur, ein Schauspieler mit Down-Syndrom, eine Bar auf dem Dach eines Parkhauses, Menschen mit Migrationshintergrund. Die Botschaft: Dit is Berlin.

Aber das ist auch ein Gesellschaftsbild, das nicht jedem gefällt. Am Mittwochnachmittag ziehen mehr als 1000 Rechtspopulisten, darunter viele Neonazis, nicht weit entfernt von der Festmeile, durch Berlin. Immer wieder wird aggressiv "Merkel muss weg" bei dem Protest der Gruppierung "Wir für Deutschland" skandiert. Auch der Hitlergruß wird gezeigt. Gegendemonstranten sind auch auf der Straße. Schilder mit der Aufschrift "Mehr Respekt und Toleranz" oder "Refugees Welcome" werden hochgehalten.

Polizisten halten die Lager mit Absperrgittern voneinander getrennt. Rund 4000 Beamte, auch aus anderen Bundesländern sind in der Hauptstadt im Einsatz, um das Fest und die Demos zu sichern. Die Polizei hatte sich nach eigenen Angaben "auf alle Eventualitäten" vorbereitet. Anfang der Woche waren acht mutmaßliche Mitglieder einer rechtsterroristischen Gruppe festgenommen worden. Ihr Name: "Revolution Chemnitz". Sie sollen am 3. Oktober eine gewalttätige Aktion geplant haben. Wo genau, das blieb offen.

Läuft also etwas schief in diesem Land? Das wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gefragt, als er nach einem Gottesdienst Hände schüttelt und für Selfies posiert. "Wir müssen nach vorne schauen und die Gesellschaft zusammenhalten", sagt er. "Das Wichtigste ist, dass die Gesellschaft mit sich selbst ins Gespräch kommt."

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