Geierlay: Hängeseilbrücke im Hunsrück Drahtseilakt mit Aussicht

BONN · Deutschlands längste Hängeseilbrücke beschert einem verschlafenen Dorf im Hunsrück seit Monaten einen Besucheransturm. Mehr als 150 000 Menschen wagten sich auf schwankenden Planken bereits in 100 Metern Höhe über die Geierlay. Jeder Fünfte dagegen kneift.

 Geierlay: Hängeseilbrücke im Hunsrück

Geierlay: Hängeseilbrücke im Hunsrück

Foto: Martin Wein

Coole Leute fahren fast überall hin. In den Hunsrück fahren sie nicht. Klar, es gibt da ein Feuerwehrmuseum in Hermeskeil, die Jugendstilkirche in Hottenbach und mancherlei Dorfnamen wie Otzenhausen, Woppenroth oder Züsch, die Ottfried Preußlers Räuber Hotzenplotz entlehnt sein könnten. Und die Wälder sind so urtümlich, dass sie im Süden der Region seit einem Jahr Deutschlands jüngsten Nationalpark Hunsrück-Hochwald bilden. Aber Trendreiseziele sehen doch anders aus als der 600-Seelen-Flecken Mörsdorf an einem Seitenarm der Mosel, wo das nachmittägliche Platzkonzert zu Pfingsten schon einen Höhepunkt im jährlichen Festkalender darstellt. Sollte man meinen.

An Wochenenden kann sich das Dorf bei Kastellaun vor Besuchern neuerdings kaum noch retten. Ein endloser Autokorso schlängelt sich seit Monaten durch die Dorfstraßen zu den ausgewiesenen Parkplätzen. Deutschlands längste Hängeseilbrücke, 380 Meter lang und 100 Meter über dem Mörsdorfer Bach schwankend, ist zu einem Besuchermagnet inmitten der Wälder avanciert. Vergessen ist das Gejammer der Bedenkenträger vom Landesrechnungshof, die noch im Sommer 2015 der Millionen-Investition ihre nachhaltige Wirkung absprachen. An der Geierlay kann man besichtigen, wie sich ein Wald-Kaff zum frequentierten Abenteuerspielplatz für Kind und Kegel mauserte.

Der Aufzug der Neugierigen will nicht abreißen: Familien aus den Niederlanden, Biker-Gruppen aus dem Ruhrgebiet in schwarzen Lederkombis, die ihre Maschinen brav im Dorf geparkt haben, eine schwatzende Clique aus Thüringen, ein Paar mit zwei aufgeregten Hunden und ein paar Neugierige aus Luxemburg schlängeln sich an einem frühsommerlichen Sonntag durch die Rapsfelder von Mörsdorf dem Waldrand zu.

Zwei gut beschilderte Routen in verschiedener Länge führen durch junges Grün bis zum nördlichen Brückenkopf. Zwei Betonblöcke bilden den Eingang. Vier Holzplanken, zusammen 85 Zentimeter breit und sechs Zentimeter dick, ebnen den Weg in Richtung Sosberg. Wer sie betritt, vertraut sein Leben sechs Spiralseilen mit maximal vier Zentimetern Durchmesser an. Sie allein tragen die 42 Tonnen Eigengewicht der Brücke – und bis zu 950 Passanten zeitgleich. Dabei ist der Zugang erstaunlich unbürokratisch. Kein Kassierer versperrt den Weg oder regelt den Zugang, kein Schild gestattet das „Betreten auf eigene Gefahr“. Nur Radfahrer mögen doch bitte absteigen, heißt es. Sogar Rollstühle, Hunde, Kinderwagen und Teddybären dürfen mit.

In anderen Teilen der Welt waren Seilbrücken aus Naturfasern und Lederriemen bis vor wenigen Jahren oft der einzige Weg über reißende Flüsse und tiefe Canyons. In den Anden Südamerikas und den Hochgebirgen Ostasiens würden nach Regenfällen enorm anschwellende Flüsse konventionelle Brücken mit kurzer Spannweite noch heute einfach fortreißen. In der Schweiz gefertigte Stahlseilbrücken sind vor allem in Nepal und Buthan inzwischen eine gute Alternative. Mehr als 4000 solcher Brücken hat die Schweizer Hilfsorganisation Helvetas Swiss Intercooperation inzwischen realisiert.

Warum sollten die nur im Hochgebirge zum Einsatz kommen, fragten sich Mörsdorfer Bürger vor einem Jahrzehnt, als sie ihr Dorf verschönern wollten. Zwar gab es eine Landstraße ins Dorf, aber viel zu wenige Besucher. Das sei wohl eine Schnapsidee, hielt man ihnen entgegen. Vier Jahre später aber griffen drei Bürger das Projekt wieder auf, schrieben Anträge, holten ein Gutachten ein und überzeugten den Gemeinderat.

Der Schweizer Ingenieur Hans Pfaffen zeichnete die Pläne, die EU gab knapp eine halbe Million Euro aus einem Fördertopf und das Land eine Viertelmillion obendrauf. 350 000 Euro nahm die Gemeinde in die Hand – und in nur vier Wochen Bauzeit wurde aus der Idee eine Touristenattraktion, die nun jährlich 170 000 Gäste locken und 2,5 Millionen Euro Umsatz durch Parkgebühren, Gastronomie und Übernachtungen bringen soll. Ein Besucherzentrum mit Bistro schickt Gäste auf den rechten Weg. Der Saar-Hunsrück-Steig passiert das Bauwerk, und an Wochenenden fliegen dressierte Adler über der Geierlay, die schließlich nach Greifvögeln benannt ist.

Nur losgehen muss jeder für sich. „We’re flying high“, trällert ein junger Mann aus der Thüringer Clique mit starkem Akzent und tänzelt mit ausgestreckten Armen auf den bodenlosen Laufsteg hinaus. „Wenn das Seil reißt, biste hin“, ruft seine Freundin ihm hinterher. „Typisch Frau“, ruft ein dritter. Ein paar Dutzend Meter weiter greifen die meisten dann vorsichtshalber doch mal zu einem der Handseile, die gleichzeitig die Brücke mit tragen. Die ist so aufgehängt, dass sie sich bei Sturm nicht überschlagen kann. Der Sogeffekt über dem Tal lässt sie aber beachtlich schwanken. „Ein Erlebnis“, fasst ein rüstiges älteres Ehepaar zusammen, das gerade den südlichen Brückenkopf erreicht hat, „aber immer müssen wir das jetzt nicht haben“. Dabei gehören die zwei zu den Mutigen vier Fünfteln. Wie die Webcam an der Südseite belegt, dreht jeder Fünfte vor der Brücke wieder ab auf den sicheren Weg durch den Talgrund. Dort unten übrigens nimmt man das Treiben auf der Brücke kaum wahr. Der Eingriff in den Naturraum bleibt minimal.

Selbst am Weltrekord sind die Mörsdorfer nur knapp vorbeigeschrammt. Den holten im Jahr zuvor Touristiker aus Reutte in Tirol. Ihren „Highliner179“ zwischen der Burgruine Ehrenberg und dem Fort Claudia ließen sie extra etwas stärker durchhängen, damit die Brücke es auf eine Gesamtlänge von 403 Metern bringt. Dafür schwebt man dort nicht über unberührte Natur, sondern wenig romantisch über die namensgebende Fernpassstraße 179.

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