Baustellen, Bergfahrer und das beste Eis Ein Spaziergang entlang der Annaberger Straße quer durch Friesdorf

Um nach Friesdorf zu gelangen, muss erst einmal die Bahnschranke überwunden werden. Aber die ist seit zehn Minuten geschlossen. Zwei Züge sind schon vorbeigerauscht. Es folgt ein dritter. Dann endlich hebt sich der weiß-rote Balken und macht den Weg frei.

Es folgen schmale Bürgersteige, rechts und links gelb verputzte dreistöckige Häuser. Dann plötzlich ein Baumhaus. Die Besitzer scheinen allerdings nicht da zu sein. Dafür öffnet Nachbar Erich Walbröhl mir die Tür. Er lebe seit 35 Jahren hier, sagt der 55-Jährige. "Ich schätze vor allem, dass man so gut an die öffentlichen Verkehrsmittel angebunden ist." Nur der Bahnlärm, der von den Schienen bis in sein Schlafzimmer dringe, der nerve.

Einen Tipp, was besonders schön oder sehenswert ist entlang der Annaberger Straße, hat er nicht parat. Seit zwei Jahren werde an der Straße gebaut, erzählt Walbröhl, erst an den Leitungen, jetzt am Kanal. "Deswegen ist im Moment eigentlich gar nichts schön." Also ziehe ich auf eigene Faust weiter. Schließlich habe ich noch einen langen Marsch vor mir. Rund 3,6 Kilometer ist die Annaberger Straße lang. Sie zieht sich von der B 9 den Berg hinauf bis in den Kottenforst.

Es ist früher Nachmittag. Zu sehen ist niemand. Die City-Bäckerei Maus hat wegen der Sommerferien schon seit 14 Uhr geschlossen. Die Friseure vom Salon Hairart sind im Urlaub. Zum Glück ist Juwelier und Uhrmacher Dieter Weberruss da. In seiner kleinen Arbeitskammer sitzt er vor den Innereien einer silbernen Armbanduhr. Aus dem Laden dringt das Ticken Hunderter Zeiger herüber. Viele stammen aus der Uhrenfabrik, die Weberruss' Familie bis Anfang der 90er Jahre im baden-württembergischen Schwenningen besaß.

Als er 1975 nach Friesdorf kam, habe es viel mehr Geschäfte gegeben. "Jetzt verschwinden sie alle nach und nach", sagt der 70-Jährige. Dreieinhalb Tage in der Woche öffnet er seinen Laden, obwohl er eigentlich längst in Rente ist. "Ich versuche, das Geschäftsleben an der Annaberger Straße am Laufen zu halten." Auch er schimpft auf die anhaltenden Bauarbeiten an der Straße: "Das ist geschäftsschädigend." Ganz anders ist das mit der zerborstenen Schaufensterscheibe - das Überbleibsel eines versuchten Diebstahls an Pfingsten. "Das ist ja eher Werbung", sagt Weberruss. Deswegen hat er die Scheibe nicht ausgetauscht, sondern einfach Glas davor gesetzt, damit sich niemand an den Sprüngen verletzt.

Während der untere Teil der Annaberger Straße, zwischen B 9 und Frankengraben, ein wenig verlassen wirkt, ist am Klufterplatz Leben. Die lilafarbenen Stühle des Eiscafés Bressa sind vollständig besetzt. Die Kellner tragen ununterbrochen mit Kaffeetassen und Eisbechern beladene Tabletts aus dem gegenüberliegenden Café über die Straße, vorbei an der Schlange und durch den Verkehr. Jung und Alt löffeln Eis aus Bechern. Kinder tollen um den Brunnen. Es wird geklönt und viel gelacht. Jessica Lambrecht wischt ihrem zweijährigen Sohn Reste von Schokoeis aus dem Gesicht. "Das Schöne ist, dass hier jeder jeden kennt", sagt die 37-Jährige. Sie ist keine Ur-Friesdorferin, sondern "Immi", wie sie selbst es nennt.

2008 ist sie ihrem Mann, der in Bonn studiert hat, hierher gefolgt. Bereut hat sie das bisher nicht, im Gegenteil: "Friesdorf ist der ideale Ort für Familien mit kleinen Kindern." Und das Eis sei auch sehr zu empfehlen. Der Meinung ist auch Derya Ersöz. "Das beste Eis Bonns", sagt die Wachtbergerin, die wie jeden Tag ihren dreijährigen Sohn Kaan Nathan aus dem Kindergarten in Friesdorf abgeholt hat. An einem Testessen führt also kein Weg vorbei. Ingwer, Schoko-Chili und Malaga - ungewöhnlich, aber auch ungewöhnlich gut.

Nach der Stärkung geht es weiter, vorbei am alten Turmhaus. Der nahezu quadratische Bau aus Trachyt-Bruchsteinen an der Ecke Im Bachele mit seinen grün-weißen Fensterläden ist eines der ältesten im Rheinland erhaltenen Wohnhäuser. Dann, nach Hausnummer 294, beginnt plötzlich die Natur. Die Annaberger Straße schlängelt sich jetzt den Berg hinauf, links und rechts stehen mannshohe Brennnesseln unter haushohen Bäumen. Dazwischen gelb blühendes Springkraut - oder "Knallpflanze", wie wir als Kinder zu sagen pflegten, weil die Knospen beim Anfassen so schön zwischen den Fingern zerplatzen. Immer wieder werde ich am steilen Hang von prustenden Radfahrern überholt.

Auch Andrea Zöllig und Jürgen Herrmann haben sich den Berg hinauf gekämpft und machen oben erst einmal eine Pause. "Für uns steht nicht so sehr der Sport, eher der Spaß im Vordergrund", sagt Zöllig. Die beiden sind auf dem Weg aus der Bonner City zurück zum Jugendzeltplatz in Bad Godesberg-Schweinheim, dessen Leiter Herrmann ist. "Der Kottenforst hat so viele schöne Wege, die sollte man nutzen", sagt Zöllig.

Nachdem die Annaberger Straße den Rheinhöhenweg kreuzt, wird sie zur schmalen Schotterstraße, links und rechts von Äpfel-, Birnen- und Mirabellenbäumen gesäumt. Es riecht nach frisch geschnittenem Heu. Sie führt zum Annaberger Hof, auf dem die Familie Büsch seit 1975 eine Pferdezucht betreibt und Reitanfänger wie ambitionierte Profis trainiert. Rund 80 Pferde sind hier zu Hause, so wie die Rheinländer-Stute Grantara, die im Hof gerade von ihrer Besitzerin Luise Hornig eine kalte Dusche verpasst bekommt - "zur Abkühlung".

Hornig nimmt seit elf Jahren hier Reitstunden, seit drei Jahren hat die 17-Jährige ihr eigenes Pferd. "Das ist schon eine ganz besondere Beziehung", sagt sie. Jeden Tag kommt sie nach der Schule her. "Der Hof hat eine ideale Lage, weil er direkt vor den Toren Bonns liegt, aber rundherum ist unberührte Natur", sagt Jan Büsch.

Am Annaberger Hof endet die Annaberger Straße - und damit auch meine Wegstrecke. Zurück geht es entlang der idyllischen Pferdeweiden, durch den Kottenforst den Berg hinab, vorbei an historischen Fachwerkhäusern, durch den lebendigen Ortskern und die schwächelnde Geschäftsmeile mit ihrer Baustelle. Ein kurzer Stopp bei Uhrmacher Weberruss, der mir noch ein besonderes Stück seiner Sammlung zeigen wollte: eine Produktion der elterlichen Fabrik aus den 50er Jahren, vorn an der Uhr ein hölzerne Fußballspieler, der zur vollen Stunde einen Miniatur-Ball kickt. Dann endet mein Spaziergang, wo er begann: vor der verschlossenen Bahnschranke.

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