Filmkritik Warum "Tully" ein ganz außergewöhnlicher Film ist

BONN · Jason Reitmans Film „Tully“ mit Charlize Theron kommt am Donnerstag ins Kino. Es ist ein ganz außergewöhnlicher Film über Mutterschaft: gleichzeitig schockierend und schön, heiter und traurig.

 Mehr als eine Haushaltshilfe: Tully (Mackenzie Davis) beobachtet Marlo (Charlize Theron) beim Stillen.

Mehr als eine Haushaltshilfe: Tully (Mackenzie Davis) beobachtet Marlo (Charlize Theron) beim Stillen.

Foto: dcm

Diablo Cody, bürgerlich: Brook Busey-Maurio, weiß, wovon sie schreibt. Die Drehbuchautorin, die 2007 mit dem von Jason Reitman inszenierten Film „Juno“ berühmt wurde und 2012 „Young Adult“ mit ihm drehte, ist mehrfache Mutter. Das dritte Kind brachte sie an den Rand der Erschöpfung: „It hit me like a garbage truck.“ In unsere Region übersetzt: Cody fühlte sich, als sei sie vor einen Wagen von Bonnorange gelaufen.

In Jason Reitmans Film „Tully“ spielt Charlize Theron Marlo, Mutter einer pfiffigen, skurril auftretenden Tochter und eines verhaltensauffälligen Sohnes. Er tritt im Auto immer von hinten gegen den Fahrersitz. Oder schreit. Nachdem Marlo ihr drittes Kind erfolgreich zur Welt gebracht hat, dreht sich im Geburtszimmer alles um Baby Mia. Eric Steelbergs Kamera nimmt eifriges Krankenhauspersonal und den stolzen Vater (Ron Livingston) auf und wendet sich dann der Mutter zu. Ihr Blick post partum ist leer, das Leben scheint aus ihrem Körper gewichen. Die Szene legt das Fundament für einen ganz außergewöhnlichen Film über Mutterschaft: gleichzeitig schockierend und schön, heiter und traurig. Und nah an der Wahrheit.

Hollywood-Kitsch sucht man hier vergeblich. „Tully“ vermittelt auf fabelhafte Weise alle emotionalen Höhenflüge und physischen Abstürze der Elternschaft. Die ewige Müdigkeit und der zermürbende Kreislauf von Stillen und Windelwechseln setzen Marlo zu. Als Theron, die für ihre Rolle 50 Pfund zugenommen hat und kompromisslos die körperlichen Folgen einer Schwangerschaft zur Schau stellt, sich am Tisch ihr schmutziges T-Shirt auszieht, will die ältere Tochter Sarah (Lia Frankland) wissen: „Mum, what's wrong with your body?“ Ehemann Drew seinerseits setzt sich Kopfhörer auf und versinkt vor dem Bildschirm in digitalen Welten.

Marlo, die studiert hat und nun in einem Vorort von New York lebt, bekommt Hilfe von ihrem wirtschaftlich erfolgreichen Bruder. Damit sie durchschlafen kann, engagiert er für sie eine „night nanny“: eine junge Frau (Mackenzie Davis) mit Namen Tully und Modelmaßen, die nachts das Füttern organisiert, die Windeln von Baby Mia wechselt, das Haus putzt, backt und sich als perfekter Gesprächspartner erweist.

Tully wirkt wie ein Wesen aus einer anderen, idealen Welt. Sie gibt Marlo ihr altes Leben zurück, inklusive folgenreichem Besuch in einer Bar in Brooklyn und Ideen fürs suspendierte Sexleben. Tully wird zur Projektionsfläche für Sehnsüchte und Erinnerungen: So war ich auch einmal, sagt sich Marlo. Sie verzichtet nicht vollkommen auf ihre mal sarkastischen, mal fatalistischen Bonmots, aber entwickelt sich langsam in ihr jüngeres Selbst zurück: eine Wiedergeburt.

Theron als Marlo verwebt oscarreif Selbstzweifel und Zerbrechlichkeit, Aggressivität und Empathie. Ihre Perspektive strukturiert den Film und seine überraschende Pointe. Das Seelenleben der gestressten Mutter übersetzt der Film in raffiniert fotografierte Bilderpoesie. Surreale Unterwassertraumsequenzen spiegeln und kommentieren die Handlung. Das muss man gesehen haben.

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