Filmkritik zum Kinoneustart "Das Mädchen aus dem Norden" als Studie einer Außenseiterin

Amanda Kernells Film „Das Mädchen aus dem Norden“ - ab Donnerstag im Kino - erzählt von den Samen im Schweden der 1930er Jahre. Es ist die Studie einer Außenseiterin.

 Das Ereignis des Films ist Cecilia Sparrok. FOTO: POLYFILM

Das Ereignis des Films ist Cecilia Sparrok. FOTO: POLYFILM

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Amanda Kernells Film erzählt eine Geschichte von Aufbruch und Rückkehr. Elle Marja ist „Das Mädchen aus dem Norden“, das in den 1930er Jahren aus Lappland fortgeht, um sich in Uppsala neu zu erfinden. Die 14-jährige Elle Marja, verkörpert von der Laiendarstellerin Cecilia Sparrok, gehört den Samen an, einem in Schweden beheimateten Volk von Rentierzüchtern. Sie pflegen ihre Kultur mit einer eigenen Sprache, samischen Trachten und samischer Musik. Das junge Mädchen, das mit Vorurteilen, Ausgrenzung und Gewalt konfrontiert wird, entflieht dieser für sie unerträglichen Situation, verlässt die Familie und reißt gleichsam die Wurzeln ihrer Existenz aus. In Uppsala nennt sie sich Christina.

Die Schwedin Kernell, verantwortlich für Regie und Drehbuch, ist das Kind eines samischen Vaters und einer schwedischen Mutter. Das erklärt den sensiblen und gleichzeitig authentischen Zugang zum Thema ihres Films. Er beginnt mit einer Autofahrt. Drei Generationen sitzen da zusammen: Elle Marja/Christina (Maj Doris Rimpi), ihr Sohn und die Enkelin. Sie sind auf dem Weg zur Beerdigung von Christinas Schwester, die bis zuletzt in der samischen Kultur zu Hause war. Die alte Frau, die als Lehrerin gearbeitet hat, verhält sich querulantisch und würde am liebsten vor der Wiederbegegnung mit der Vergangenheit davonlaufen.

Während sie rauchend und sinnend im Hotelzimmer sitzt, kommen die 1930er Jahre qua Rückblende ins Bild. Auf der einen Seite nimmt die Kamera (Sophia Olsson und Petrus Sjövik) die raue Bergwelt der Samen auf, mit Stechmücken und mitunter brutalen Wetterverhältnissen. Kinder, Erwachsene, Rentiere und Hunde bietet Kernell auf, um ihre Filmerzählung physisch zu beglaubigen. Die Hälfte der Darsteller hatte keine Dreherfahrung. Cecilia Sparroks Schwester Erika spielte ihre Filmschwester Njenna, die Großmutter der Schwestern ist als deren Großmutter zu sehen.

Das Ereignis des Films ist Cecilia Sparrok, die mit traumwandlerischer Sicherheit jeden Ton ihrer Figur trifft: wie sie im Kontakt mit ihrer Lehrerin literarische Einflüsse begierig in sich aufnimmt; wie sie das Gefühl von Erniedrigung quält, als sie Objekt einer rassenbiologischen Untersuchung wird; wie ihre rebellische Natur die Oberhand gewinnt; wie sie die ersten sexuellen Erfahrungen macht. In Sparroks Augen kann der Zuschauer lesen wie in einem spannenden, verstörenden und immer wieder sehr poetischen Buch.

Leitmotivisch beobachtet die Kamera Elle Marja in Szenen, in denen sie sich als Außenseiterin empfindet. Mal dringt sie von außen ins Innere einer dörflichen Tanzveranstaltung vor, mal steht sie als Bittstellerin in Uppsala vor einer Tür. Ein Kleid, das sie gegen ihre samische Tracht eintauscht, streift sie über wie eine neue Identität. Die Tracht verbrennt sie. Die Schauspielerin Cecilia Sparrok, die Südsamisch sprechen kann, vermittelt einen Eindruck davon, welche Kraft nötig ist, um sich von der eigenen Herkunft zu emanzipieren. Ohne Selbstverleugnung und lebenslangen Trennungsschmerz ist das nicht zu haben.

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