Dokumentarfilm "Über Leben in Demmin": Trauer am Tag der Befreiung

Hamburg/Demmin · Der 8. Mai ist in Mecklenburg-Vorpommern offiziell der Tag der Befreiung. Ältere Vorpommern verbinden den Einmarsch der Russen jedoch oft auch mit traumatischen Erinnerungen. Der Film "Über Leben in Demmin" zeigt, wie schwierig der Umgang mit der Vergangenheit ist.

 Regisseur Martin Farkas lässt in seiner Dokumentation Zeitzeugen zu Wort kommen.

Regisseur Martin Farkas lässt in seiner Dokumentation Zeitzeugen zu Wort kommen.

Foto:  Salzgeber

Als am 30. April 1945 russische Panzer Demmin erreichen, bricht über die vorpommersche Kleinstadt eine Katastrophe herein. Demmin wird in Brand gesetzt, Hunderte Bewohner, vor allem Frauen mit Kindern, nehmen sich das Leben.

"Sie gehen ins Wasser", wie Zeitzeugen in Martin Farkas' Dokumentarfilm "Über Leben in Demmin" berichten. Frauen beschweren sich mit Steinen und ertränken sich und ihre Kinder. Andere schneiden sich die Pulsadern mit Rasierklingen auf, erhängen, erschießen oder vergiften sich. Innerhalb von vier Tagen nahmen sich nach Angaben des Historikers Florian Huber fast 1000 Menschen das Leben.

Über die Motive rätseln auch die Zeitzeugen in Farkas' Film. Töteten sich die Frauen wegen der Übergriffe und Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten? Waren Rotarmisten zuvor aus dem Hinterhalt beschossen oder bei einer Siegesfeier vergiftet wurden? Gerieten die Bewohner infolge der antirussischen Nazipropaganda in eine Massenhysterie? Oder waren es gar nicht Rotarmisten, die die Stadt anzündeten, sondern befreite Zwangsarbeiter, die man zuvor schlecht behandelt hatte?

Farkas gibt in seinem Film keine eindeutige Antwort. Er lässt Zeitzeugen zu Wort kommen und blendet ein paar spärliche Fakten als Textzeilen ein. Auf Bilddokumente aus dem Frühling 1945 verzichtet er allerdings nahezu ganz. Sein eigentliches Thema ist nicht die Rekonstruktion der damaligen Ereignisse, sondern der Umgang mit der Geschichte mehr als 70 Jahre danach.

Ein Polizeihubschrauber in der Luft und zahlreiche Polizeiautos sind am 8. Mai 2016 die Vorboten eines Marsches von Neonazis. "Wir feiern nicht - 8. Mai 1945 - Wir vergessen nicht", heißt es auf ihrem schwarzen Transparent. Hinter einer Polizeikette am Bahnhof werden sie von linken Gegendemonstranten begrüßt, die eine rote Sowjetfahne mit Hammer und Sichel schwenken.

Mecklenburg-Vorpommern ist das einzige Bundesland, in dem der 8. Mai als "Tag der Befreiung" offizieller Gedenktag ist. Die Wiederaufnahme dieser DDR-Tradition hatte 2001 die damalige rot-rote Regierungskoalition in Schwerin beschlossen. Seitdem legt der Ministerpräsident alljährlich einen Kranz vor einer Bronzeplastik aus DDR-Zeiten nieder, auf der die Sowjetsoldaten als Befreier geehrt werden.

Bis zum Fall der Mauer durfte in Demmin nicht über die Vergangenheit geredet werden. Auch heute wollen viele davon nichts wissen. "Ach Mutti, lass das man, wir haben heute eine andere Zeit und die (Enkelkinder) wachsen anders auf", hat eine ältere Frau von ihrer Tochter zu hören bekommen. "Eigentlich hat man die Zeit begraben", sagt eine andere alte Demminerin.

Dass für das eigene erfahrene Leid kein Platz ist, haben die alten Demminer mehr oder weniger akzeptiert. "Man muss einmal abschließen damit", sagt Brigitte Roßow. Nur wenn ihr mal wieder etwas aus der Hand falle, "kommt das wieder". Als Kind waren ihr und ihrem Bruder die Handgelenke aufgeschnitten worden, dennoch konnten sie mit der Mutter dem geplanten Massenselbstmord gerade noch entkommen.

Wer gedenkt in Demmin der Opfer? Die Neonazis reklamieren das und identifizieren sich mit Hitlers Wehrmacht. Linke Demonstranten übernehmen den Widerpart und rufen ihnen zu: "Ihr habt den Krieg verloren!" "Den Toten zu Ehr' - den Lebenden zur Pflicht" steht an einem Denkmal. Darüber das Kürzel O.D.F. - Opfer des Faschismus. Doch mit diesem Begriff aus DDR-Zeiten ist keiner der Anfang Mai 1945 Gestorbenen und Misshandelten gemeint.

Die Alten von Demmin freuen sich über ein diskretes Zeichen, das auf Initiative von Hans-Jürgen Syberberg entstanden ist. Der aus einem Nachbardorf stammende Regisseur berichtet von einer Baumreihe, die auf dem ehemaligen Marktplatz gepflanzt wurde. Es mache die Demminer glücklich, dass etwas so Schönes und Zartes in ihrer Stadt wachse, "dieses Federleichte über dem Untergrund, der so schwer wiegt", sagt der 82-Jährige.

Über Leben in Demmin, Deutschland 2017, 90 Min., FSK ab 12, von Martin Farkas.

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