Eine Frau der ersten Stunde

Frieda Nadig saß für die SPD im Parlamentarischen Rat. In Ahrweiler hatte sie Schutz vor den Nazis gefunden

Frieda Nadig,  Mitglied des Parlamentarischen Rates.

Frieda Nadig, Mitglied des Parlamentarischen Rates.

Foto: Heinz Engels

Ahrweiler. Unter den insgesamt 65 stimmberechtigten Mitgliedern im Parlamentarischen Rat, der in Bonn am 1. September 1948 erstmals tagte, waren nur vier Frauen. Neben Elisabeth Selber (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum) gehörte Frieda Nadig (SPD) der verfassungsgebenden Versammlung an. Sie ist somit eine der vier Mütter des Grundgesetzes, das am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossen wurde und am 23. Mai 1949 in Kraft trat. Wer war diese Frau, die von 1936 bis 1945 in Ahrweiler lebte und dort als Fürsorgerin beim Staatlichen Gesundheitsamt arbeitete?

Geboren wurde Friederike (Frieda) Charlotte Louise Nadig am 11. Dezember 1897 in Herford. Sie wuchs in einer sozialdemokratisch geprägten Familie auf. Nach Abschluss der Volksschule absolvierte sie eine Lehre als Verkäuferin, engagierte sich bereits 1913 in der sozialistischen Arbeiterjugend und war seit 1916 Mitglied der SPD. 1922 legte sie ihr Staatsexamen als Wohlfahrtspflegerin ab. Bei der Stadt Bielefeld fand sie eine Anstellung als Jugendfürsorgerin. Von 1930 bis 1933 war sie SPD-Abgeordnete im Preußischen Provinziallandtag Westfalen.

Aufgrund ihrer politischen Aktivitäten wurde sie nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Mai 1933 fristlos entlassen. Begründung: "Unzuverlässigkeit im nationalen Sinne." 1936 fand sie dann eine Anstellung beim Staatlichen Gesundheitsamt in Ahrweiler. "Wie dieses Arbeitsverhältnis zustande kam, ist nicht überliefert, denn die Personalakte von Frieda Nadig und auch sonstige Unterlagen zu ihrer beruflichen Tätigkeit im Kreis Ahrweiler sind leider nicht vorhanden", versichert Kreisarchivar Leonhard Janta.

Die Literatur über Frieda Nadig geht auf diese Zeit auch nur am Rande ein. Im Melderegister von Ahrweiler ist Frieda Nadig vom 2. Januar 1936 bis zum 24. Juni 1946 eingetragen. Sie wohnte demnach zunächst in der Wilhelmstraße 83, dann bei Familie Reinhold Müller an der Römerstraße und schließlich bei Familie Schmitz an der Grafschafter Straße. Für diesen Zeitraum ist die Fürsorgerin auch in den Einwohnerbüchern für den Kreis Ahrweiler 1936/37 und 1939/40 auffindbar.

Außerdem ist Frieda Nadig noch im erhaltenen Verzeichnis der Bewohner des Ahrweiler Silbergtunnels, der sogenannten "Stadt im Berg", aufgeführt. Sie suchte dort, so wie viele Ahrweiler Bürger, Ende 1944 bis Anfang 1945 Schutz vor den Bombenangriffen. Frieda Nadig erscheint auf der Bewohnerliste unter dem Hüttenverschlag 71 - zusammen mit der Familie von Sanitätsrat Georg Habighorst, der bis 1933 im Ahrweiler Stadtrat als Zentrumsmitglied politisch tätig und für seine Abneigung gegen die Nationalsozialisten bekannt war. Georg Habighorst war nach Kriegsende Gründungsmitglied der CDU im Kreis Ahrweiler und Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz. "Ob es zu einem politischen Gedankenaustausch zwischen Frieda Nadig und Habighorst kam, ist nicht bekannt", erläutert der Kreisarchivar. Nachweisbar ist hingegen die Mitgliedschaft der Wohlfahrtspflegerin in der NSV (Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt) und der NS-Frauenschaft. Diese Zugehörigkeit zu NS-Organisationen war wohl die Voraussetzung für die Einstellung bei der Staatlichen Gesundheitsbehörde. Insgesamt gestaltet sich die Spurensuche nach Frieda Nadigs Ahrweiler Zeit von 1936 bis 1945/46 als sehr schwierig. Dennoch konnte Janta Zeitzeugen ausmachen, die sich noch an Frieda Nadig erinnern. Die Kinder der Familie Reinhold Müller, bei denen Frieda Nadig einige Jahre zur Untermiete wohnte, schildern sie als herzlich und sehr mütterlich.

Zu den Müllers pflegte Frieda Nadig engen Kontakt, der auch das Kriegsende 1945 überdauerte. So gab es gegenseitige Besuche in Ahrweiler und in Bonn. Mit einer Chauffeurin kam Nadig gelegentlich von Bonn an die Ahr und brachte Geschenke mit. Frieda Nadig vermittelte auch für eines der Kinder einen Erholungsaufenthalt in einer Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt.

Die Gesundheitspflegerin Walburga Dickopf war ab 1941 Kollegin von Frieda Nadig. Ebenso wie die Söhne der Familie Müller beschreibt sie Frieda Nadig als klein, korpulent und resolut. Als amtliche Fürsorgerin war Frieda Nadig für die Bezirke Sinzig und Ahrweiler zuständig. Zu ihren Aufgaben gehörte unter anderem die Betreuung von TBC-Kranken.

Von der politischen Tätigkeit Nadigs vor 1933 und ihrer Einstellung gegen den Nationalsozialismus wussten ihre Kolleginnen im Ahrweiler Gesundheitsamt nichts. Lediglich der Leiter des Gesundheitsamtes, Wilhelm Nocker, soll darüber informiert gewesen sein. Walburga Dickopf erinnerte sich später, dass Frieda Nadig große Angst vor einer Verhaftung hatte. Nach 1945 bestätigte Nocker, dass Frieda Nadig wohl immer wieder mit ihrer Festnahme gerechnet hatte. Privat verhielt sie sich deshalb unauffällig und pflegte nur wenige persönliche Kontakte. Im Gesundheitsamt hingegen nutzte sie ihren Einfluss, um Menschen zu helfen: Ihre Weggefährtin Elfriede Eilers etwa wusste, dass Frieda Nadig politisch verfolgte oder von der Euthanasie bedrohte Menschen unterstützte.

Unmittelbar nach Kriegsende verließ Frieda Nadig den Kreis Ahrweiler. In ihrer Heimatstadt Herford nahm sie ihre politische Arbeit wieder auf. Sie gehörte dem Beirat der Britischen Zone an, war Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen von 1947 bis 1950. Dieser sandte sie 1948/49 in den Parlamentarischen Rat nach Bonn. Als Abgeordnete wirkte Frieda Nadig anschließend im Deutschen Bundestag von 1949 bis 1961. Besonders setzte sie sich im Parlament für die Gleichberechtigung der Frau, für Familienrechte und die Gleichstellung unehelicher Kinder ein. Von 1945 bis 1966 war sie zudem Geschäftsführerin des Bezirksverbandes Östliches Westfalen der Arbeiterwohlfahrt. Auf die Initiative der unverheirateten Politikerin gehen zahlreiche soziale Einrichtungen zurück, darunter etwa Altenheime Kindertagesstätten.

Im Alter von 73 Jahren starb sie am 14. August 1970.

Ahrweiler war von 1936 bis 1945 eine wichtige Station im Leben von Frieda Nadig. Dort konnte sie sich drohenden Anfeindungen und der Verfolgung entziehen, die ihr in Westfalen gedroht hätten, da sie dort aus der Weimarer Republik als engagierte SPD-Politikerin bekannt war. An die Arbeit für die Menschen in Ahrweiler soll sich Frieda Nadig in späteren Jahren gerne und oft erinnert haben.

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