"Bonner Rede" "Wir leben in einer Zuschauer-Demokratie"

BONN · Ein Mann wusch gestern im Museum Koenig seinen CDU-Parteigenossen den Kopf. Das Büro Bundesstadt Bonn der Konrad-Adenauer-Stiftung hatte sich zum Verfassungstag ihr Präsidiumsmitglied Peter Müller geladen. Im neuen Stiftungsformat "Bonner Rede" sollte der Bundesverfassungs-Richter anhand des Grundgesetzartikels 21 die dort geforderte Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung darlegen.

 Es ballen sich zu viele Parteien in der Mitte, Profilierung fehlt ihnen: Peter Müller fand gestern Nachmittag sehr direkte Worte der Kritik.

Es ballen sich zu viele Parteien in der Mitte, Profilierung fehlt ihnen: Peter Müller fand gestern Nachmittag sehr direkte Worte der Kritik.

Foto: Horst Müller

Die prominenten CDU-Mitglieder der Region wollten zurück und zugleich nach vorne schauen. Und dann las ihnen der so jovial wirkende Herr Müller die Leviten. Warum die Volksparteien ihren von den Müttern und Vätern der Verfassung hier im Museum Koenig erteilten Auftrag heute letztlich so enttäuschend wahrnähmen, fragte der ehemalige Ministerpräsident des Saarlands in die feierliche Runde.

Die aktuellen Wahlbeteiligungen sprächen nicht dafür, dass die für die Demokratie so wichtige Willensbildung bei den Menschen reichlich ankomme, kritisiert Müller. Und sein seit 2011 neues Scharlachrot des Bundesrichters leuchtete hier im Museum zumindest auf der Krawatte. Nein, die Volksparteien seien nicht von Schuld freizusprechen, dass bei weitem nicht nur die SPD im Wählertief herumdümpele. "Es ballen sich zu viele Parteien in der Mitte. Die Stammwähler erkennen ihre Partei nicht mehr wieder. Parteien verzichten heute offensichtlich bewusst auf Profilierung", analysierte der Ex-Ministerpräsident. Außerdem sei nichts für Parteien so schädlich wie die Zerstrittenheit, das habe schon "die heilige Elisabeth von Allensbach" orakelt, hatte Müller mal die Lacher auf seiner Seite. Strategien, die nur darauf abzielten, dass die Anhänger der politischen Gegner ihre Stimme nicht abgeben, verhielten sich gegen den vom Gesetzgeber formulierten Parteienauftrag.

Bestimmte Themen zu tabuisieren, Menschen bewusst "in bestimmte Ecken" zu stellen und damit zu verunglimpfen, ja die sogenannte Alternativlosigkeit von Entscheidungen zu propagieren, alles das entspreche nicht der Verpflichtung, die der Grundgesetzartikel 21 den Parteien ins Stammbuch geschrieben habe, wetterte Müller auch gegen seine eigenen Parteifreunde. Andererseits gebe es natürlich auch einen anderen unerlässlichen Auftrag des Gesetzgebers: nämlich den an das Volk, an die Gesellschaft, der jedoch mit der aktuell grassierenden Politikverachtung Lügen gestraft werde. "Wir entwickeln uns zu einer Zuschauerdemokratie. Die Politiker schwitzen am Reck, und die Menschen heben oder senken nur noch den Daumen", klagte Müller. Und da kam erstmals Zwischenapplaus auf, als er dazu aufrief, den Politikern, deren Gros einen verantwortungsvollen Dienst leiste, den Respekt nicht zu entziehen.

"Parteien müssen sich wieder öffnen, sie dürfen keine Tabus aufbauen. Im Gegenteil: Sie müssen mehr Profil wagen", resümierte Müller, der Ende 2011 in einem ungewöhnlichen Wechsel vom selbstbewussten Ministerpräsidenten zum Verfassungsrichter geworden war. Der Bürger wiederum sei ebenfalls gefordert, mehr Engagement zu zeigen und den Wert der Parteien neu anzuerkennen. Er gebe zu, schloss Müller, alles das sei eine Sisyphusarbeit. "Aber es ist bekannt von Sisyphus, dass er auch riesige Freude an seinem Schuften hatte."

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