Interview mit Ursula Lehr „Wir haben nicht zu viele Alte, sondern zu wenig Junge“

Bonn · Kürzlich verteidigte Ursula Lehr bei der CDU im Bad Godesberger Villenviertel noch als Einzige die Politik der Kanzlerin und fragte: „Sind wir sonst noch eine christliche Partei?“ Jetzt legt die renommierte Wissenschaftlerin konkrete Zahlen zum Flüchtlingsthema vor.

 Altenforscherin Ursula Lehr war Bundesministerin.

Altenforscherin Ursula Lehr war Bundesministerin.

Foto: Axel Vogel

Für Sie sind Flüchtlinge „ein Segen für unser Land“. Sind Sie da nicht eine „weltfremde Idealistin“, wie GA-Leserbriefe diese Haltung kritisieren?
Ursula Lehr: Ich sage, Flüchtlinge sind unter der Bedingung ein Segen, dass ihre Integration gelingt. Und im Hinblick auf den demografischen Wandel. Der Zuzug ist also eine Chance, auch für uns. Wenn ich übrigens die Leserkritik höre, frage ich mich natürlich, wo eigentlich unsere christliche Nächstenliebe hin ist. Wir stehen doch angesichts der Zuflucht suchenden Menschen in einer humanitären Pflicht.

Lassen wir uns über Zahlen reden.
Lehr: Gerne. Jahrelang haben wir den demografischen Wandel rauf und runter beklagt. Wir haben über Überalterung gejammert, wobei ich das Unterjüngung nennen würde: Wir haben heute nicht zu viele Alte, wir haben zu wenig Junge. 2013 ging das Statistische Bundesamt für Nordrhein-Westfalen von 2010 bis 2060 von einem Bevölkerungsrückgang von 20 Prozent aus. Aus aktuellem Anlass ein Blick nach Sachsen: Für dort wurde ohne Zuzug ein 31-prozentiger Rückgang der Bevölkerung prognostiziert. Das ist schon gewaltig

Was heißt das konkret für uns?
Lehr: Dass heute einem 75-Jährigen und Älteren schon nur 9,8 Personen gegenüberstehen, die jünger als 75 Jahre sind. Und davon nicht einmal zwei unter 20. Wenn aber unsere heute 50-Jährigen im Jahre 2040 einmal 75 Jahre und älter sein werden und keine Flüchtlinge da wären, dann werden ihnen im Schnitt nur noch 4,4 Menschen gegenüberstehen, die jünger sind. Nur 0,8 werden unter 20 sein und nur 2,5 zwischen 20 und 40 Jahren. Wer soll also dann die Versorgung im Alltag gestalten? Wer soll unsere Bahnen fahren? Von der Produktion ganz zu schweigen. Für sie gibt es kein Zurück: Was sich fünf junge Flüchtlinge am Friedrich-List-Berufskolleg vorgenommen haben

Wir sprechen also über die Zeit in nur 25 Jahren?
Lehr: Genau. Wir sprechen darüber, wenn keine Flüchtlinge da wären. Bitte machen wir uns das doch einmal klar. Schauen wir zum Beispiel in ländliche Gegenden, die derzeit schon ausbluten. Läden schließen. Die Jungen gehen in die Städte. Nur die Alten bleiben. Es kommen keine Kinder mehr nach. Da werden enorm viele Helfer gebraucht.

Können Sie Beispiele nennen?
Lehr: Überlegen Sie mal: In Meckenheim werden die über 80-Jährigen bis 2030 um 127,2, in Niederkassel um 126,3, in Hennef um 106,3 Prozent zunehmen. Es wird gleichzeitig 18 Prozent weniger unter Zweijährige in Meckenheim geben, 15,9 Prozent weniger in Ahrweiler, zehn Prozent weniger in Königswinter. Da wird man noch froh sein, auf junge Helfer, die jetzt ins Land kommen, zurückgreifen zu können. Woher kommen die Flüchtlinge?

Aber in Bonn werden bis 2030 kaum weniger Kleinkinder leben?
Lehr: Ja, Großstädte wie Bonn sind in den nächsten Jahren noch besser dran. Bonn zieht die Leute an, weil wir Telekom, Post und ähnliches vor Ort haben. In Bonn beträgt die prozentuale Veränderung des Anteils über 80-Jähriger bis 2030 nur 29,2 Prozent. Alles ohne Flüchtlinge gezählt.

Aber auch hier wird der Anteil der bis Zweijährigen irgendwann sinken?
Lehr: Ja, weil eben die potenzielle Elterngeneration, die Gruppe der 25- bis 45-Jährigen, schon heute geschrumpft ist und weiterhin schrumpfen wird. Genau die Altersgruppe, die in den kommenden Jahrzehnten arbeiten wird, die Kinder bekommen soll, wird überall viel kleiner.

Diese Altersgruppe ist aber derzeit in hoher Zahl unter den Flüchtlingen zu finden?
Lehr: Richtig. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge waren 2015 unter den Asylantragstellern 71 Prozent jünger als 30 Jahre, knapp 28 Prozent zwischen 30 und 60 und nur 1,5 Prozent älter als 60 Jahre. Demografie und Asylproblematik müssen also in einem deutlicheren Zusammenhang diskutiert werden. Diese jungen Einwanderer sind ein Gewinn für uns, vorausgesetzt, es gelingt schnell eine gute Integration und Schulung.

Und dann werden sie ein Segen sein?
Lehr: Das setzt allerdings eine schnellstmögliche Anerkennung voraus, sofortige Kindergarten- und Schulplätze, gute Schulausbildung für Jungen und Mädchen, eine gründliche Berufsausbildung und den raschen Einstieg ins Berufsleben, die adäquate Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt – und natürlich das sofortige Erlernen der deutschen Sprache. Sehr oft müssen traumatisierende Erlebnisse – sei es im Heimatland, auf der Flucht oder im jetzigen Lagerleben – schnellstens aufgearbeitet werden.

Sehen Sie keine Risikofaktoren?
Lehr: Doch. Lang andauernde Ungewissheit über die Zukunft schadet natürlich. Ein Leben in Sammelunterkünften ohne jede eigene Rückzugsmöglichkeit ebenso, immer beschäftigungslos herumzusitzen, die Langeweile und damit der drohende „Bore-out“, der in Depressionen münden kann. Aggressionen können wachsen. Wir müssen also schnell handeln. Flüchtlinge brauchen für sie erreichbare Ziele, brauchen eine Aufgabe. Denn wer keine Aufgabe hat, gibt sich auf.

Warum klagen gerade diejenigen, die auf hohem Niveau leben, über Einbußen durch Flüchtlinge?
Lehr: Ja, das möchte ich auch wissen. Wir müssen wohl alle etwas großzügiger sein. Flexibilität verlangt ein Sich-Umstellen-Können, Toleranz und Solidarität von Einheimischen und von Zugewanderten. Stures Festhalten am Vergangenen, das man vielleicht noch in verklärtem Licht sieht, bringt uns alle nicht weiter. Dabei wollen und sollen wir unsere alten Werte nicht aufgeben. Wir sollten auf Tradition aufbauend in die Zukunft schauen und diese gestalten. Unsere Werte, im Grundgesetz verankert, stehen dabei nicht zur Disposition.

Sie waren letzte Woche beim 5. Demografieforum in Berlin?
Lehr: Ja, und da hat der BAGSO-Vorsitzende Franz Müntefering den so richtigen Satz geprägt, als er sagte: „Flüchtlinge sind eine Chance. Nun müssen wir halt das Geld, das wir durch unsere nicht geborenen Kinder gespart haben, für sie ausgeben.“

Haben Sie denn selbst Erlebnisse mit Flüchtlingen?
Lehr: Ich habe kürzlich mit einer Kollegin einige Syrer zum Mittagessen eingeladen. Die sprechen schon sehr gut Deutsch und zeigten sich enorm angepasst. Aber ich frage mich natürlich, warum einer von ihnen, ein junger Mann, in keine Fachhochschule kommt, nur weil er auf der Flucht keine Zeugnisse mitnehmen konnte. Er darf auch keine Prüfung machen. So nehmen wir jungen Leuten, die mit Schwung ankommen, jede Chance. Die, die geflohen sind, sind ja meist diejenigen, die mehr Initiative haben. Wer die Strapazen einer Flucht auf sich nimmt, der hat Mut und Unternehmungsgeist. Den sollten wir fördern.

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