Ersatzplenarsaal in Bonn Vor 30 Jahren tagte der Bundestag erstmals im Wasserwerk

Bonn · Klein, aber fein - so empfanden viele Abgeordnete das Wasserwerk, in dem das Parlament am 9. September 1986 erstmals tagte. In dem früheren Industriebau wurde nur bis 1992 Politik gemacht -- und doch Geschichte geschrieben. Auch das Votum für den Umzug nach Berlin fiel dort.

Es ist 11.02 Uhr am 9. September 1986: Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) ergreift das Wort. In neuer, ungewohnter Umgebung für die Parlamentarier, nur einen Steinwurf entfernt vom Rhein: "Wir haben die Sommerpause genutzt. Unser Ausweichquartier, offiziell Ersatzplenarsaal, inoffiziell Wasserwerk genannt, ist fertig." Der alte Plenarsaal war marode geworden und sollte einem Neubau weichen.

Im Wasserwerk aus dem Jahr 1874 wurden dann die politischen Weichen nach dem Ende der deutschen Teilung gestellt: Die Abgeordneten beschlossen 1990 den Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR und ein Jahr später den Umzug von Parlament und Teilen der Bundesregierung nach Berlin. Am Abend des 9. November 1989 hatten sie nach Bekanntwerden des Mauerfalls spontan die Nationalhymne angestimmt.

1992 war das neue Bonner Parlamentsgebäude -- nach seinem Architekten Behnisch-Bau genannt -- fertig. Und hatte schnell wieder ausgedient: 1999 kehrten die Abgeordneten dem beschaulichen Bonn endgültig den Rücken und zogen um in das Berliner Reichstagsgebäude.

Der Korrespondent der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" war bei der Auftaktsitzung im herausgeputzten Wasserwerk beeindruckt: "Der
Raum ist hell und licht, die Rundbogen- und Rosettenfenster geben der Stätte eine leicht sakrale Atmosphäre. Dabei ist der Charakter des Industriegebäudes erhalten geblieben, wie zum Beispiel die Metallstreben von Wand zu Wand und der Kranwagen unter der Decke zeigen."

Der Journalist übersah dabei, dass vor allem Enge herrschte. Nur für 404 der 519 Abgeordneten gab es feste Sitzplätze. Zusätzlich hatten die Architekten veranlasst, dass 36 Wandklappsitze zur Verfügung standen. 1990 mussten die Parlamentarier noch enger zusammenrücken: 154 Abgeordnete aus den neuen Ländern zogen ins Wasserwerk ein, was überhaupt nur möglich wurde, nachdem die Armlehnen der Stühle abgeschraubt und die Abstände der Stuhlreihen minimiert worden waren.

Philipp Jenninger versuchte, in der misslichen Lage etwas Positives zu entdecken: „Vielleicht hat die räumliche Enge sogar ihr Gutes, indem sie unseren gemeinsamen Wunsch fördert, die Debatten lebendiger zu führen.“ Es war auch im Wasserwerk, wo er 1988 seine vielfach kritisierte Rede zum Gedenken an die Novemberpogrome hielt, nach der er zurücktreten musste.

Das Wasserwerk war einst zentral für die Versorgung der Bonner mit Trinkwasser gewesen, das vor allem aus dem Grundwasser der Rheins
gewonnen wurde. Als 1958 der Wahnbachtalsperrenverband die Versorgung der Stadt übernahm, endete der Betrieb. 1965 kaufte die Bundesrepublik das Areal, die technischen Einrichtungen wurden bis auf "Notbrunnen" demontiert.

Die Gesamtanlage sei "erhaltenswert aus geschichtlichen, insbesondere stadtgeschichtlichen und technikgeschichtlichen Gründen", betonen die Denkmalschützer Angelika Schyma und Elke Janßen-Schnabel. Und: "Mit der zeitweiligen Nutzung als Plenarsaal wird der Anlage zentrale Bedeutung für die Geschichte der Bundesrepublik zugesprochen."

Im beengten Wasserwerk waren emotionale Debatten keine Seltenheit. Die beiden bekanntesten sind die rund achtstündige Kontroverse am 20. September 1990 über den Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR und die fast zwölf Stunden dauernde Berlin-Bonn-Debatte
neun Monate später.

Am 20. Juni 1991 waren die Abgeordneten um kurz vor zehn Uhr morgens an ihre Arbeitsplätze geströmt. Der Saal war so voll wie selten zuvor. Das Votum über den künftigen Regierungssitz war zu diesem Zeitpunkt völlig offen -- auch, weil die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD in ihren Haltungen tief gespalten waren. Allein Bündnis 90/Die Grünen und PDS/Linke Liste plädierten nahezu geschlossen für Berlin.

104 Redner meldeten sich während dieser Sitzung zu Wort, noch einmal so viele gaben ihre Reden schriftlich zu Protokoll. Auch Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) hielt eine leidenschaftliche Rede -- gegen Berlin. Bonn stehe für "eine der glücklichsten Epochen der republikanischen Tradition in Deutschland".

Um 21.47 Uhr verkündete Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) die Entscheidung: 320 Stimmen für Bonn, 338 für Berlin. "Jubel und Entsetzen herrschten im Wasserwerk, doch das Ergebnis wurde respektiert", schreibt der Bonner Politikwissenschaftler Hanns Jürgen Küsters. Damit war der Antrag, der offiziell "Vollendung der Einheit" hieß, angenommen.

Zuletzt wurden Wasserwerk und Pumpenhaus als Konferenzstätten des World Conference Centers Bonn genutzt. Künftig sind jedoch die
Vereinten Nationen Hausherr: Am Rheinufer entsteht der UN Campus. Und der will hoch hinaus. Demnächst wird der neue, 17-stöckige Erweiterungsbau des Klimarahmensekretariats der UN errichtet. Dann, so heißt es in Bonn, steht neben dem einstigen Abgeordnetenhaus "Langer Eugen" noch ein "Kurzer Eugen".

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