100 Experten diskutieren So will Bonn die Kinderarmut bekämpfen

Bonn. · 100 Sozialexperten haben einen Maßnahmenkatalog beschlossen, mit dem die Kinderarmut in Bonn bekämpft werden soll. In manchen Punkten stoßen sie allerdings auf Ratlosigkeit.

 100 Bonner Sozialexperten fordern eine gemeinsame Strategie gegen Kinder- und Familienarmut. 

100 Bonner Sozialexperten fordern eine gemeinsame Strategie gegen Kinder- und Familienarmut. 

Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

Im wohlhabenden Bonn ist weiterhin jedes fünfte Kind von Armut betroffen. „Deshalb muss es eine Gesamtstrategie gegen Kinder-, Jugend- und Familienarmut geben“, sagte Ulrich Hamacher, Geschäftsführer des Diakonischen Werks in Bonn zu Beginn eines vom Runden Tisch gegen Kinderarmut organisierten Fachtags am Freitag. Am Ende verabschiedeten die 100 Teilnehmer aus Wohlfahrtsverbänden, Verwaltung, Vereinen und Politik einen Maßnahmenkatalog.

Ein kommunales Netzwerk soll Verantwortungen klar definieren und alle Akteure in Ämtern, bei Jobcenter und Agentur für Arbeit, Schulen, freien Trägern und im Gesundheitswesen sozialpolitisch handlungsfähig machen, steht darin. Und diese Strukturen und die präventiven Maßnahmen zur Entlastung von Familien wie Bonn-Ausweise und das kostenfreie Schulfrühstück seien dauerhaft sicher zu finanzieren.

Jugendamtsleiter Udo Stein hatte herausgestellt, dass es beim Begriff Kinderarmut um mehr gehe als nur um den Mangel an materiellen Ressourcen. „Kinderarmut ist zwar immer Familienarmut, aber zum großen Teil Teilhabe- oder Chancenarmut“, die allerdings häufig mit finanzieller Armut beginne. Wichtig sei, die zahlreichen Angebote der Stadtgesellschaft zielgenau ans Kind zu bringen. „Deshalb braucht es nicht immer mehr Leistungen, sondern eine zentrale Stelle, damit die Familien unbürokratisch und bedarfsgerecht Unterstützung erhalten“, sagte der Jugendamtsleiter. Auch der Ausbau der Kindertagesstätten- und Offene-Ganztags-Struktur sei unverzichtbar. „Es muss selbstverständlich sein, dass jedes Kind ohne Ausnahme einen Kindergartenplatz erhält“ und danach eine OGS besuchen könne. Zudem sei mehr bezahlbarer Wohnraum erforderlich, und alle Kinder und Jugendlichen sollten freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr erhalten.

Speziell im Workshop „Lebenslagen Bonner Familien“ wurde die Tragik jedes fünften Bonner Kindes greifbar. Allein in Bezug auf unter Dreijährige fragten jährlich 400 Familien in Not beim Bonner Netzwerk Frühe Hilfen an, erläuterten deren Leiterinnen Susanne Absalon und Anja Henkel. Unterstützung brauchten vor allem Alleinerziehende, Eltern ohne ausreichende Sprachkenntnisse, psychisch oder chronisch Kranke und Wohnungslose. „Sie können die Entwicklung ihrer Kinder nicht adäquat begleiten und Kosten nicht bezahlen. Sie fühlen sich ohnmächtig und perspektivlos.“ Heutzutage würden aus armen Familien schon Grundschüler ohne Handy von Gleichaltrigen gemobbt. Für Alleinerziehende sei die Situation oft ein Teufelskreis: Ohne Job bekämen sie keinen Betreuungsplatz und ohne Betreuungsplatz keinen Job.

Zudem wüssten viele Betroffene nicht, welche Hilfen ihnen zustünden. In Befragungen hätten Eltern eine Vereinfachung von Antragstellungen gewünscht, einen niederschwelligen Zugang zu Betreuungsangeboten und kostenlose Sport-, Freizeit- und Nachhilfemöglichkeiten. Die Teilnehmer des Workshops wandten sich damit postwendend an Sozialamtsleiterin Gitte Sturm. Die machte jedoch klar, dass eine Beantragung der Kostenübernahme für Vereinszugehörigkeiten erneut bürokratischen Aufwand zur Folge hätte. „Warum halten dann die Bonner Vereine nicht selbst kostenlose Kontingente für Kinder armer Familien vor?“, fragte ein Sozialarbeiter. Die Lösung könne nur eine generelle Erhöhung des Kindergeldes sein, meinte ein anderer. Kinderärztin Ingeborg Schwalber-Schiffmann schilderte ergreifend das Schicksal von fünf Kindern einer Obdachlosen, die mit Übergewicht, Asthma, Hautproblemen und psychisch belastet in ihre Praxis kämen und unbedingt einer umfassenden Förderung bedürfen. „Wir müssen diese Mütter, die ihre Kinder ja lieben, mehr unterstützen“, forderte sie. In solchen Belastungssituationen seien weit mehr sozialpädagogische Familienhilfen nötig, damit die Kinder nicht abrutschten, war sich die Expertenrunde einig. Und die Information über mögliche Hilfen müsse in Bonn gebündelt abrufbar gemacht werden.

Andererseits nähmen eine ganze Reihe Eltern in Not auch keine Hilfen an, berichteten zwei Sozialarbeiterinnen frustriert. „Wir reden uns den Mund fransig, und dann sind diese Eltern am vereinbarten Termin nicht zu Hause, obwohl sie mit ihren Kindern auf die Nase fallen.“ Auch andere in der Runde artikulierten Ratlosigkeit. Man käme wohl am besten über schulische Sozialarbeiter an diese Familien heran. Sicher würde auch in noch mehr Sprachen übersetztes Informationsmaterial Brücken bauen, folgerten wieder andere. Damit könnte man dann sicher auch besser Angebote für Bonner arme Familien kommunizieren: etwa den Bonn-Ausweis, die Lebensmittelausgabe der Bonner Tafel oder das Job-Café im Jobcenter.

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