Das Bonn-Center ist Geschichte So erlebten die Zuschauer die Sprengung vor Ort

BONN · Tausende Schaulustige pilgern zum Bundeskanzlerplatz, um das Ende des 1969 eingeweihten Hochhauses live mitzuerleben. Viele warten geduldig mehr als eine Stunde lang auf den großen Augenblick.

Punkt 11 Uhr: Ein plötzlicher Rumms, wie in Zeitlupe kippen die Flanken des Bonn-Centers zur Seite. Dann sackt das Mittelteil in sich zusammen. Es dauert genau neun Sekunden, bis an den Aussichtspunkten der Applaus Tausender Zuschauer einsetzt. Was bleibt, ist ein Haufen Schutt in einer weißen Staubwolke. Der Boden hat nicht vibriert, nicht mal auf der Reuterbrücke war die Erschütterung zu spüren. „Da ist keine Scheibe zu Bruch gegangen“, ist ein Mitarbeiter des Abrissunternehmens AWR überzeugt. Wie akribisch vorausgeplant, liegt der zertrümmerte Riese in seinem gemachten Bett in der Baugrube. Maßarbeit.

Nicht nur die Bonner sind an diesem Morgen schon früh auf den Beinen: „Wir haben uns den Platz schon letzte Woche ausgesucht“, sagt Marion Siebigteroth aus Sankt Augustin. Sie und ihr Mann Johannes haben sich nach Rundfahrten in Beuel für einen Weg im oberen Teil der Graf-Stauffenberg-Straße in Kessenich entschieden und dort ihre Campingstühle aufgestellt. Dazu ein Stativ: „Ich mache eine Zeitlupe mit 120 Bildern pro Sekunden“, sagt der Sankt Augustiner. Hier schaut auch Helmut Radlanski aus Bad Godesberg, nachdem er den Platz im Internet auf Google Earth gefunden hat.

Soundtrack zum Abriss: „Another Brick in the Wall“

Doch die meisten wollen dichter ran, kommen zu Fuß oder mit dem Rad. Väter nehmen ihre Kinder huckepack und diskutieren mit ihnen, wie dick wohl die Staubwolke wird. An der Bahnschranke Rheinweg machen es sich Conny und Stefan Burkert mit ihren Kindern gemütlich. Neben Getränken haben sie eine Bluetooth-Box mitgebracht, über die ihr persönliche Soundtrack zum Abriss läuft: „Another Brick in the Wall“ von Pink Floyd, „Another One Bites the Dust“ von Queen und „The Final Countdown“ von Europe.

Bestatter Werner Kentrup hat für seine Familie sogar einen Anhänger an der Reuterbrücke abgestellt, um gemeinsam das Hochhaus zu Grabe zu tragen. „Wir können von oben bis zum Erdgeschoss sehen“, sagt der Kessenicher. Er sieht die Sprengung mit einem lachenden Auge: „Es geht weiter in Bonn. Der Neubau wertet später vor allem das Viertel auf. Er bringt auch Arbeitsplätze.“

Anke und Bernd Scheiff haben sich zur Sicherheit Bauhelme aufgesetzt. „Man muss ja auf sich achten“, sagen die beiden. So gehört sich das für ihre Abrissparty an der Kessenicher Eduard-Otto-Straße. Stehtische raus, Lachsschnittchen, Kuchen, Kaffee und ein Fässchen Kölsch drauf. Es dauert nicht lange, da trudeln die Gäste ein. „Ich finde das toll, wie der Rheinländer aus so was ein Event macht“, meint Monika Kleinefenn. Sie ist gut gelaunt wie Luise Keller, die seit 46 Jahren an der Straße wohnt und die Sprengung mit ihrem alten Opernglas beobachtet. „Das Gebäude hat nicht lange gelitten“, sagt Bernd Scheiff am Ende des kurzen Schauspiels. Das finden auch die Gäste beim After-Spreng-Brunch in der Markusschänke. Sie haben zwar durch eine Häuserlücke nur Sicht auf die oberen Etagen des Bonn-Centers, dafür aber immer ein frisches Kölsch in der Hand.

Frühstück für die evakuierten Anwohner

Früh aufstehen müssen an diesem Morgen die Bewohner der Häuser, die in der unmittelbaren Gefahrenzone des Sprengbereichs in einem Radius von 100 Metern wohnen. Gegen 8 Uhr klingeln Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamtes an sieben Eingangstüren und sorgen dafür, dass auch alle ihre Wohnungen verlassen. Investor Art-Invest versüßt den Anwohnern die Unannehmlichkeiten mit einem Frühstück im Café des nahe gelegenen städtischen Kunstmuseums.

Gut 50 Bewohner nehmen das Angebot an. Unter ihnen Christiane Kaus. „Die haben für uns schon ordentlich was aufgefahren“, sagt die 27-jährige Studentin später, als sie zu ihrer Wohnung an der Eduard-Pflüger-Straße zurückkehrt. Etwas enttäuscht ist sie über den angeblichen Logenplatz auf einer Tribüne, die der Investor auf dem achten Deck des WCCB-Parkhauses eigens für geladene Gäste, also auch für die Hausbewohner, aufgebaut hat. „So gut wie ich dachte, konnte man von dort aber nicht gucken“, sagt Christiane Kaus.

Da wäre sie mal besser in der Nähe ihrer Straße geblieben. Etwas weiter südlich, an der Ecke zum Rheinweg, knubbeln sich die Menschen. Es sind weit mehr als 1000 Leute, die sich dort versammelt haben. Einige versuchen noch, auf die andere Seite der Bahnstrecke zu wechseln. Da sind es nur noch wenige Minuten bis 11 Uhr. Dann geht die Schranke runter und nur knapp kommt ein Junge noch unten durch. Eine Polizistin zieht ihn zu sich hinüber. Sie ist sichtlich verärgert über so viel Leichtsinn.

Ein Feuerwehrmann beweist Humor

Ein paar mutige junge Männer haben es sich auf den Ästen der Bäume am Rheinweg bequem gemacht. Ganz vorne an der Absperrung können es Bent (7) und sein neunjähriger Bruder Jan kaum noch erwarten. Sie sind extra mit ihrer Oma Karin Siebenhaar aus Köln zu ihrer Tante Svenja Kirsten nach Bonn gereist, um ja nicht das Schauspiel zu verpassen. „Wann geht es denn endlich los?“, fragt Bent. In dem Moment knallt es auch schon laut, und das Bonn-Center fällt in sich zusammen.

Wie auf Kommando schnellen alle Handys und Kameras in die Höhe. Wenige Sekunden später applaudieren die Zuschauer. Ein Feuerwehrmann beweist Humor und verneigt sich vor der Menge. Alle lachen und klatschen noch mal. Der Spaßfaktor ist groß bei diesem Sprengakt. Dann steigt nur noch der weiße Staub in die Luft, doch bis zum Rheinweg reicht die Wolke nicht. Die Feuerwehrleute sind die einzigen, die einen Mundschutz tragen. Den können sie getrost wieder abnehmen.

Früh unterwegs ist auch eine Gruppe kanadischer Touristen. Sie wollen ins Haus der Geschichte und wundern sich, dass vor ihnen die Straße abgesperrt ist. Als sie den Grund hören, sagt einer von ihnen: „Oh, hoffentlich sind wir dann noch hier in der Nähe. Das würde ich mir auch gerne ansehen. So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Geschichtsträchtig ist der Tag für Bonn ohnehin.

Spreng-Party direkt an der Reuterbrücke

Dirk Rosendahl (37) wohnt in Troisdorf. Dort stand einst der sogenannte Kaiserbau. Die 18-stöckige Bauruine, die nach dem Konkurs des einstigen Baulöwens Franz Kaiser 28 Jahre lang an der Flughafen-Autobahn A 59 in Troisdorf vor sich hindämmerte, wurde 2001 am frühen Morgen gesprengt. „Das hätte ich auch gerne live gesehen. Ich hatte aber verschlafen“, erinnert sich Rosendahl an damals.

Der Rheinländer verkleidet sich gerne, und so ist am Sonntag auch ein falscher Sprengmeister unterwegs: Im Anzug hat sich Johannes Tomczyk unter die Zuschauermassen an der Reuterbrücke gemischt. Mit seinem Regencape und dem selbstgebastelten „Sprengleiter“-Schild auf dem gelben Baustellenhelm kann er allerdings keine Ordnungskräfte narren, um näher an das Bonn-Center zu kommen – trotz schwarzem Anzug und Krawatte. „Es ist auch nur ein Spaß“, erzählt er. Deshalb feiern er und seine Freunde eine Spreng-Party direkt an der Reuterbrücke.

Dort haben sich auch der drei Jahre alte Paul und sein Vater Andreas Knickmann einen Platz ausgesucht. „So ein Ereignis darf man sich nicht entgehen lassen“, sagt Knickmann. Der kleine Paul wurde von Eltern und Großeltern zudem komplett ausgestattet: Mit Ohrschützern, Warnweste und Schutzbrille. Von den Schultern seines Vaters aus hat er einen besseren Blick als viele andere.

Familienfoto mit dem Bonn-Center

Jessica Becker nutzt die Position für ein letztes Familienfoto mit dem Bonn-Center. „Das kommt nie wieder, deswegen wollen wir es festhalten. Irgendwann ist das Foto bestimmt mal historisch“, sagt sie an dem Morgen.

Belebt wie immer am Sonntagmorgen ist das Rheinufer unterhalb des WCCB. Viele Jogger sind unterwegs. Ein Senior, der namentlich nicht genannt werden will, geht dort mit seinem Hund spazieren. „Nein, die Sprengung schaue ich mir gewiss nicht an. Dann kommen mir zu schlimme Erinnerungen hoch“, sagt er. Schließlich habe er als Kind den Zweiten Weltkrieg bewusst miterlebt und die Bilder, als Bomben Bonn in Schutt und Asche legten, habe er nie aus dem Kopf bekommen.

Wer Glück hat, ergattert einen Platz über den Dächern von Bonn: auf Türmen, Unigebäuden und manchem Flachdach. Oben auf der Bundeskunsthalle hat der Kiosk sein Sortiment erweitert und bietet passend zum Tag „Getränke, Sprengstoff & Snacks“ an. Überall werden Abschiedsbilder mit dem Bonn-Center im Hintergrund gemacht. Dann ist alles ganz schnell vorbei.

Viele zieht es nach dem Freigabesignal noch zur Baugrube, um Fotos vom Schuttberg und dem verstaubten Bundeskanzlerplatz zu schießen. Die Menschenmengen machen sich dann langsam wieder auf den Heimweg. Rings um die Großbaustelle kommen die Mitarbeiter von Bonnorange zum Zuge und reinigen die Straßen. Deshalb bleiben sie für den Autoverkehr bis 13.30 Uhr gesperrt. Nur Fußgänger und Radfahrer dürfen eher durch, was allerdings die Reinigungsarbeiten behindert.

Inzwischen ist auch die Vermieterin von Christine Kaus wieder in ihrem Haus an der Eduard-Pflüger-Straße eingetroffen. Vera Heck ist nicht allzu gut auf die Firma Art-Invest zu sprechen, die das Bonn-Center abreißen lässt, um dort vier neue Gebäude zu errichten. „Gut, das Frühstück war schon sehr nett“, sagt sie. Aber sie ärgere sich, dass sie auf inhaltliche Fragen, die sie per E-Mail an den Bauherren geschickt hatte, bisher keine Antworten erhalten habe. Sie wollte etwa wissen, was sie denn mit ihren Kellerfenstern machen solle, die nicht ganz dicht seien, weil es sich noch um alte Gitterfenster handele. „Ich habe den Eindruck, dass in dem Moment, als das Unternehmen die Abrissgenehmigung in den Händen hielt, das Interesse an uns dann nicht mehr so groß war.“

Ob durch die Sprengung Schäden am Haus entstanden sind, müsse sie jetzt prüfen. „Bei uns ist ein Spiegel von der Wand gefallen“, berichtet Christiane Kaus' Mitbewohnerin Tanja Gillmann. Glücklicherweise sei er aber heile geblieben. Immer wieder gucken sie und ihre Freundinnen die Videoaufnahme von der Sprengung, die mit einem iPad gemacht worden sind.

Das Bonn-Center stirbt am Ende im Internet noch tausend Tode: Unzählige Fotos und Videoclips rauschen in Windeseile zu Facebook und Twitter. Da steht der Koloss wieder. Dann der Knall. Die Ruine sackt krachend in sich zusammen. Wieder und wieder.

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